Krise der Demokratie - Rolle der Religion

Zur Ambivalenz der Religiosität in der Demokratie

Demokratie braucht Religion - aber welche Religion, welche Demokratie? Das war der Grundtenor der 100 Teilnehmer*innen an der transdisziplinären Konferenz "Krise der Demokratie - Rolle der Religion". Diese fand am 28. November 2023 in der Volkshalle des Wiener Rathauses statt. Sie wurde veranstaltet vom Netzwerk "Interdisziplinäre Werteforschung" der Universität Wien.

Auf der Basis der Europäischen Wertestudie (European Values Study, EVS) ging die Konferenz der Frage nach, welche Auswirkungen subjektive Religiosität auf demokratiepolitisch relevante Einstellungen hat. Diese Frage steht auch im Mittelpunkt der im Springer-Verlag als Open Access erschienenen Publikation "Values - Politics - Religion: The European Values Study. In-depth Analysis - Interdisciplinary Perspectives - Future Prospects".

Zentrale Befunde dieser Studie sowie die jüngsten Ergebnisse der Covid-19-Sonderedition der Europäischen Wertestudie für Österreich (durchgeführt in den Jahren 2021 und 2022) wurden mit Multiplikator*innen aus der Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft, dem Bildungssystem und Religionsgemeinschaften in Arbeitsgruppen diskutiert. Das Ziel bestand darin, Religionsgemeinschaften für ihre demokratiepolitische Verantwortung zu sensibilisieren und Handlungsoptionen zu sammeln, die die demokratieförderlichen Dimensionen von Religion in verschiedenen Gesellschaftsbereichen unterstützen.

 

"Verdeckte Legitimitätskrise" der Demokratie

Der Beitrag von Religionsgemeinschaften als Teil der Zivilgesellschaft ist zum einen notwendig, weil sich laut der Befunde der EVS auch in Österreich eine "verdeckte Legitimitätskrise" der liberalen, menschenrechtsbasierten Demokratie beobachten lässt. Zwar erscheint laut Susanne Pickel (Universität Duisburg-Essen) "das Dach" der Demokratie - d.h. die Zustimmung der Demokratie - ziemlich stabil.

Aber trotz hoher Zustimmung zur Demokratie zeigen sich am Fundament doch deutliche Risse. Die Zufriedenheit mit der Demokratie sowie das Vertrauen in Institutionen sind seit 2018 in Österreich deutlich zurückgegangen. Nur mehr ein knappes Drittel ist mit dem Funktionieren der politischen Institutionen zufrieden. Auch die Zustimmung zu einem "starken Führer" ist auf 21% gestiegen. Überdies kann sich die Zustimmung zur Demokratie durchaus mit autokratischen Elementen verbinden. Ursache ist ein "uninformiertes" Demokratieverständnis, das eng mit sozialer Ungleichheit, materialistischen Werten, Nationalismus, Rassismus - und auch Religiosität zusammenhängt.

 

Ambivalenz von Religiosität

Zum anderen ist Religiosität in ihren demokratiepolitischen Auswirkungen ambivalent. Laut Gert Pickel (Universität Leipzig) kann Religiosität einerseits prodemokratische Einstellungen stärken - wenn religiöse Menschen aktive Mitglieder einer Religionsgemeinschaft sind und sich sozial und kulturell praktisch engagieren. Bei solchen Personen ist das Vertrauen in die Demokratie sogar signifikant höher als bei der übrigen Bevölkerung bzw. der Wunsch nach einem "starken Führer" deutlich geringer.

Demgegenüber verbinden sich exklusivistische Religiositäten, die nur die eigene Religion als absolut wahr erachten, deutlich häufiger mit antidemokratischen Einstellungen. Die Brücke zwischen antidemokratischen und religiösen Einstellungen bilden dabei Vorurteile gegenüber Minoritäten, insbesondere gegenüber Muslimen, Juden und Homosexuellen. Die Ablehnung religiöser, kultureller und sozialer Pluralität aber ist ein Risiko für die liberale Demokratie.

 

Was tun?

Im Zuge der Konferenz wurden mit den Teilnehmer*innen zahlreiche Ideen gesammelt, wie man die demokratieförderliche Rolle von Religion stärken kann. Dabei wurde u.a. das Einüben zentraler Praxisformen und Haltungen betont, derer die Demokratie als Lebensform bedarf, wie z.B. die Übernahme von Verantwortung in und für die Gemeinschaft und das Zurückstellen von Eigeninteressen gegenüber dem Gemeinwohl, Toleranz und Respekt oder das Aushalten von Differenz, Scheitern und Krisen. Als notwendig erachtet wurde dabei freilich eine auch wissenschaftlich fundierte religiöse Bildung, für die wesentlich auch die Universitäten in Österreich sorgen.

  • Vorträge zum Nachhören finden Sie hier:
    • Einführung
    • Panel 1 (Vortrag Susanne Pickel)
    • Panel 2 (Dialogvortrag Christoph Konrath - Christof Mandry)
    • Panel 3 (Vortrag Gert Pickel)
    • Podiumsdiskussion (Karl-Heinz Grundböck, Rabbiner Schlomo Hofmeister, Sieglinde Rosenberger, Johann Schelkshorn, Peter Schipka, Ümit Vural; Moderation: Doris Helmberger-Fleckl)
  • Medienbeiträge finden Sie hier.

Buchtipp

Publikation (open access): Regina Polak / Patrick Rohs (Hgg.): Values - Politics - Religion: The European Values Study. In-depth Analysis - Interdisciplinary Perspectives - Future Prospects. Springer, Cham 2023 (= Philosophy and Politics - Critical Explorations 26). doi.org/10.1007/978-3-031-31364-6