Werte - Zoom, Nummer 10

Ist Einheit in Vielfalt noch möglich?

Teil II: Polarisierungen in Werten und politischen Einstellungen zwischen europäischen Großregionen

11.10.2021

Der erste Teil des Beitrags analysierte die unterschiedlichen Sichtweisen der Europäer*innen zu den zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen Umverteilung, kulturelle Diversität und Umweltbewusstsein. Dabei zeigte sich, dass Fremdenfeindlichkeit in Westeuropa tendenziell zurückgeht, während sie in osteuropäischen Ländern konstant auf hohem Niveau bleibt. Über das vergangene Jahrzehnt zeigt sich jedoch über alle Regionen hinweg, dass Präferenzen für Umverteilung in Krisenzeiten hoch sind, aber in wirtschaftlichen Boomphasen eher abnehmen. Zusätzlich ist europaweit keine Hinwendung zu mehr umweltfreundlichem Verhalten zu erkennen. Der zweite Teil des Beitrags vertieft nun die Analyse und fokussiert auf die Kluft zwischen vorherrschenden Werten und politischen Ideologien innerhalb europäischer Staaten und zwischen europäischen Großregionen, um tiefergehende Erklärungen für die unterschiedlichen Sichtweisen zu zukünftigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen zu finden.

 

Eine wesentliche Spaltungslinie in Europa: liberale vs. (neo)konservative Haltungen

Sowohl innerhalb westeuropäischer Länder als auch in den zunehmend härter geführten Debatten zwischen West- und Osteuropa rund um europäische Werte wird ersichtlich, dass eine zunehmende Kluft zwischen liberalen und konventionellen Werten zutage tritt. Die Erweiterung des nationalen Erfahrungs- und Handlungsraums betrifft überwiegend die privilegierten Teile der Bevölkerung und führt in diesen Milieus zu einer vielfach liberal-kosmopolitischen Ausrichtung der Identität. Gleichzeitig sind stärker lokal verwurzelte Personen desintegrierenden Wirkungen durch Globalisierung und Europäisierung passiv ausgesetzt, wodurch anti-europäische Haltungen an Boden gewinnen.1 Gerade zwischen West- und Osteuropa brechen hierbei zunehmend Konfliktlinien hervor, weil in den westeuropäischen Kernländern eine proaktive Stoßrichtung zu "mehr Europa" propagiert wird, während in osteuropäischen Ländern reaktionäre Kräfte künftig die Gewichte stärker zu den Nationalstaaten zurückverlagern möchten.2 Es ist naheliegend, dass auch die unterschiedlichen Sichtweisen zu Umverteilung, kultureller Diversität und Naturschutz (siehe Teil I) durch divergierende Werthaltungen und politische Einstellungen entstehen. Tatsächlich zeigt eine umfassende Operationalisierung zentraler Werthaltungen der Bürger*innen in Österreich und in den vier Großregionen auf, dass klare Diskrepanzen zwischen den Bürger*innen in den jeweiligen Regionen bestehen.

Grafik: B. Veit

Geht man beispielsweise auf den Anteil der Postmaterialist*innen in den einzelnen Regionen ein3, so umfasst dieser rund ein Viertel in den prosperierenden Staaten Westeuropas, während in den baltischen Ländern und in Bulgarien und Rumänien unter 10% dieser Gruppe zuzuordnen sind. Noch stärker zeigt sich die Kluft in vorherrschenden Grundhaltungen zu Geschlechterverhältnissen und in der Zustimmungstendenz zu liberalen Werten. Verschiedene Indizes, die aus mehreren Indikatoren der Europäischen Wertestudie gebildet wurden, weisen darauf hin, dass eine traditionelle Sichtweise zu Geschlechterrollen in Osteuropa noch weit verbreitet ist. Knapp 40% der Bevölkerung stimmen den Indikatoren zu, dass Frauen für Kinderbetreuung und Haushalt zuständig sein sollen, während knapp ein Drittel der Bevölkerung auch Männer als geeigneter für die Karriere einstuft. Im Unterschied dazu ist die Zustimmung zu diesen Aussagen in den Ländern mit Krisenanzeichen und vor allem in westeuropäischen Staaten deutlich geringer ausgeprägt. Der deutlichste Unterschied manifestiert sich in liberalen vs. konservativen Weltanschauungen. So stimmen vor allem in den prosperierenden Staaten Westeuropas mehr als 70% der Bevölkerung zu, dass Homosexualität, Abtreibungen oder Scheidungen zu rechtfertigen sind, während diese Sichtweisen in Süd- und Osteuropa nur tendenziell mehrheitsfähig und vor allem in den baltischen Ländern und in Rumänien und Bulgarien nur gering verbreitet sind. Von Interesse ist an dieser Grafik, dass Österreich in seinen grundlegenden Wertorientierungen doch stärker von den anderen westeuropäisch-prosperierenden Ländern abweicht und tatsächlich eine Brücke zu den osteuropäischen Regionen bildet. Der Anteil der Materialist*innen liegt auf vergleichbarem Niveau und emanzipatorische Haltungen (in Bezug auf Geschlechterrollen) sind weniger stark verbreitet. Während auch in Österreich liberale Grundwerte überwiegen, sind hier die deutlichsten Diskrepanzen zu Süd- und vor allem Osteuropa erkennbar. Moralisch fragwürdiges Verhalten (wie Betrug oder Korruption) wird in allen Regionen gleichermaßen abgelehnt.4 Hier könnte das hohe Ausmaß an Korruption in einzelnen osteuropäischen Staaten5 dazu beitragen, dass sich auch die Bevölkerung in Osteuropa eindeutig gegen moralisch fragwürdiges Verhalten positioniert.

 

Politische und soziale Desintegration als Nährboden rückwärtsgewandter Ideologien

Nicht nur in Bezug auf Werte, sondern auch mit Blick auf politische Einstellungen und die soziale Teilhabe in der Gesellschaft zeigen sich über die Regionen teils deutliche Unterschiede. Während die politische Entfremdung in Europa fortschreitet, schlagen sich Erfahrungen der fehlenden Teilhabe (noch) nicht auf die Sphäre des gemeinschaftlichen Zusammenhalts nieder. Übereinstimmend berichten die Bürger*innen in allen Regionen Europas, ihren nächsten Familienangehörigen, Verwandten und Bekannten zu vertrauen. Zusätzlich herrschen zumindest in den prosperierenden Staaten hohe Raten des ehrenamtlichen Engagements vor, rund ein Drittel der Bevölkerung ist in der Freiwilligenarbeit tätig. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist in Südeuropa, aber auch in Osteuropa, deutlich niedriger, was in diesen Regionen auch die fehlende Bereitschaft für brückenbildendes Sozialkapital6 erklären könnte. Es zeigt sich deutlich, dass das generalisierte Vertrauen in Fremde, in Angehörige anderer Religionen und Nationalitäten stufenweise abfällt, was eine Erklärung für den stärker grassierenden Ethnozentrismus in Osteuropa darstellt. Von Interesse ist, dass auch in Österreich das generalisierte Vertrauen geringer als in anderen westeuropäischen Staaten ausfällt und in etwa im Niveau der Länder mit Krisenanzeichen liegt. In Bezug auf gemeinschaftliche Kohäsion (persönliches Vertrauen) und ehrenamtliches Engagement unterscheidet sich Österreich kaum von anderen westeuropäischen Staaten.

Grafik: B. Veit

Sowohl in westeuropäischen Staaten mit Krisenanzeichen als auch in osteuropäischen Ländern wird jedoch ein erstaunlich hohes Ausmaß an politischem Desinteresse (bei 60% der Bevölkerung) und politischer Entfremdung (bei rund 80% der Bevölkerung) erreicht. Einzig in den nord- und westeuropäischen Ländern sind diese Tendenzen erst in Ansätzen ersichtlich, wobei auch in diesen Ländern bereits mehrheitlich kritische Haltungen zur Politik geäußert werden. Auch hier liegt Österreich im Niveau anderer westeuropäischer Staaten, während in Süd- und Osteuropa längt kritische Schwellenwerte einer hohen Politikverdrossenheit überschritten sind. Von großer Wichtigkeit ist jedoch der Befund, dass sich die Bürger*innen - trotz autokratischer Tendenzen in einzelnen osteuropäischen Staaten7 - klar für die demokratische Willensbildung aussprechen. Freie Wahlen, Bürgerrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter werden überwiegend als essenzieller Bestandteil der europäischen Demokratie betrachtet.8

Wie in weiterführenden Auswertungen9 gezeigt wird, sind sowohl traditionelle Werthaltungen (wie eine Ablehnung liberaler Weltanschauungen oder ein traditionelles Geschlechterrollenverständnis) sowie auch Aspekte politischer und sozialer Desintegration (politisches und soziales Misstrauen verbunden mit einer Anfälligkeit für Autoritarismus) wesentliche Antriebskräfte von Ethnozentrismus sowie einer Abkehr von Umverteilung und Klimasensibilität. Die Ausformung einer kosmopolitischen Identität dürfte sich mittelfristig eher in jenen Staaten durchsetzen, wo eine breite Integration der Gesellschaft gewährleistet ist und weitreichende Kriseneffekte (wie beispielsweise durch die gegenwärtige Pandemie) entsprechend ökonomisch und sozial abgefedert werden können. In jenen Staaten mit Krisenanzeichen sowie vor allem in Osteuropa dürften größere Teile der Bevölkerung entweder als vulnerabel oder als anfällig für rechtspopulistische Ideologien oder anti-europäische Haltungen zu charakterisieren sein. Solange die ideologischen Auseinandersetzungen im Kontext eines produktiven öffentlichen Dissens10 ablaufen, besteht Hoffnung für die europäische Integration. Es gilt, die indifferenten Teile der Bevölkerung von den Vorteilen der Europäisierung zu überzeugen. Insofern dürfte die gesellschaftliche Mitte die Zukunft Europas in den Händen halten.

Wolfgang Aschauer

 

Anmerkung: Dieser Text stellt die Kurzfassung eines Beitrags zum Sammelband "Values - Politics - Religion" dar, der im Frühjahr 2022 im Springer-Verlag erscheinen wird.

 

Assoz. Prof. MMag. Dr. Wolfgang Aschauer ist seit 2016 Assoziierter Professor an der Abteilung Soziologie und Kulturwissenschaft der Universität Salzburg. 2015 hat er sich mit der Monografie "Das gesellschaftliche Unbehagen in der EU. Ursachen, Dimensionen, Folgen" (2017 im Springer-Verlag erschienen) habilitiert. Aktuell befasst er sich in einem breiteren soziologischen Zugang mit Herausforderungen der Sozialintegration und mit Solidaritätspotenzialen in der europäischen Gesellschaft.

Kontakt: wolfgang.aschauer@sbg.ac.at

 

Anmerkungen:

1 Siehe z.B. ausführlich Bluhm, K., & Varga, M. (2018). New Conservatives in Russia and East Central Europe. London & New York: Routledge.

2 Diese Dialektik zwischen transnationaler Integration und nationalstaatlicher Desintegration hat besonders ausführlich Richard Münch in einer seiner zahlreichen, umfangreichen Monografien analysiert: Münch, R. (2008). Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft. Zur Dialektik von transnationaler Integration und nationaler Desintegration. Frankfurt a. M.: Campus.

3 Die These des Wandels von materialistischen zu postmaterialistischen Werthaltungen als Folge westlicher Modernisierung hat erstmals Ronald Inglehart (1971) prominent verfolgt. Über vier gesellschaftspolitische Ziele, die gereiht werden müssen, wird der sogenannte Inglehart-Index auch in der EVS gemessen. Die Grafik gibt den Anteil der Materialist*innen und Postmaterialist*innen wieder. Inglehart, R. (1971). The Silent Revolution in Europe: Intergenerational Change in Postindustrial Societies. American Political Science Review 65, 991-1017.

4 Die Skalen beruhen auf relativ komplexen Operationalisierungen. Um das Niveau der Zustimmung europaweit vergleichend abzubilden, wurde basierend auf dem Skalenmittelpunkt der Anteil der Befragten errechnet, die (durchschnittlich) den Items zustimmen. Insofern können nicht nur Unterschiede zwischen europäischen Großregionen abgeleitet, sondern es können auch Zustimmungsraten zwischen den verwendeten Indikatoren verglichen werden.

5 Vgl. hierzu z.B. Kostadinova, T. (2012). Political corruption in Eastern Europe: Politics after communism. Boulder, CO: Lynne Rienner Publishers.

6 Siehe z.B. Putnam, R.D., & Goss, K.A. (2001). Einleitung. In R.D. Putnam (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich (S. 15-44). Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.

7 Vgl. z.B. das Demokratie-Matrix-Konzept und das neueste Ranking sowie die neueste Publikation dazu: Lauth H.W., & Schlenkrich, O. (2021). Demokratie unter populistischer Herrschaft: Verändert sich die Qualität der Demokratie? In W. Muno & C. Pfeiffer (Hrsg.), Populismus an der Macht (S. 23-59). Wiesbaden: Springer VS.

8 Auch hier beruhen die Skalen auf Operationalisierungen, die meist auf mehreren Indikatoren basieren. Erneut wurde die mittlere Zustimmung zu den Indikatoren (auf Basis des Skalenmittelpunkts) abgebildet, um eine vergleichende Analyse der Zustimmungstendenz in den Regionen zu ermöglichen. Nähere Informationen zu den Skalenbildungen in den Grafiken 1 und 2 stellt der Verfasser des Beitrags gerne auf Nachfrage zur Verfügung.

9 Dieser Beitrag berichtet generell ausschnitthaft die Ergebnisse aus einem ausführlichen Buchbeitrag "Perceptions of social challenges in Europe. Disentangling the effects of context, social structure, religion, values and political attitudes to identify potential drivers of societal change", der in Kürze im Sammelband "Values - Politics - Religion: The European Values Study. In-depth Analysis - Interdisciplinary Perspectives - Future Prospects" (Hrsg.: R. Polak und P. Rohs) beim Springer-Verlag erscheinen wird.

10 Siehe z.B. Dubiel, H. (1997). Unversöhnlichkeit und Demokratie. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen? (S. 425-446). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.