Werte - Zoom, Nummer 6

Zentrale Lebensbereiche - Der Trend zum "Mikrosozialen"

21.01.2021

Die Europäische Wertestudie (European Values Study, EVS) analysiert seit drei Jahrzehnten die Werthaltungen der Österreicher*innen. Die Einstiegsfrage jeder Untersuchungswelle lautet: Wie wichtig sind Arbeit, Familie, Freunde, Freizeit, Politik und Religion im Leben der Befragten? Die Ergebnisse der EVS von 1990 bis 2018 ermöglichen einerseits eine Deutung der Positionierung der Bereiche zueinander, andererseits zeigen sie, wie sich die Bedeutung der Bereiche selbst über die 30 Jahre verändert hat.

 

Österreich: Die große Bedeutung der kleinen Welt

In der Österreich-Analyse der EVS gehört die wachsende Bedeutung der mikrosozialen Lebensbereiche zu den markanten Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre: Die Familie erweist sich stabil als der wichtigste Lebensbereich (Antwortkategorie "sehr wichtig" 1990: 84%, 2018: 82%), die Bedeutung von Freunden (1990: 35%, 2018: 60%) und Freizeit (1990: 36%, 2018: 48%) ist deutlich gewachsen. Umgekehrt verliert das Lebensfeld Arbeit an Wichtigkeit: Hielten 1990 noch 61% der Befragten Arbeit für einen sehr wichtigen Lebensbereich, waren dies 2018 nur mehr 50%. Die Bedeutung von Religion (14%) und Politik (11%) fällt gegenüber den anderen Lebensfeldern deutlich ab (vgl. Grafik1 unten).2

Mit Familie und Freunden domiert also "das Mikrosoziale", was den Bedarf an Stabilität und emotionaler Sicherheit zeigt. Diese Entwicklung wirft aber die Frage auf, "wie viel Interesse, Kraft und Ressourcen für gesellschaftliches Engagement und sozialen Zusammenhalt bleiben"3. Bemerkenswert ist auch die Bedeutungsverschiebung bei Arbeit und Freizeit.4 Dass der Lebensbereich Arbeit an Wichtigkeit verliert und jener der Freizeit zunimmt, bedeutet jedoch nicht, dass die Österreicher*innen die "Lust an Arbeit" verloren hätten, eher im Gegenteil: Dass bei nachlassender Wichtigkeit von Arbeit die Ansprüche an den Beruf steigen,5 zeigt, dass die Menschen nicht irgendeine Arbeit wollen, sondern eine qualitätvolle berufliche Tätigkeit, die sich auch gut mit Freizeit und Privatleben verbinden lässt.

Grafik: B. Veit

Internationale Ergebnisse differenziert

Wie stellt sich nun die Wichtigkeit von Lebensbereichen im internationalen Vergleich dar? Unter den aktuell verfügbaren Daten wurden zwölf Länder genauer analysiert: Österreich, Deutschland, Tschechien, Slowakei, Rumänien, Estland, Litauen, Schweden, Norwegen, die Niederlande, Italien und Portugal.

  • Die Familie ist - 2018 mit Werten zwischen 68% und 92% - in allen Ländern der am wichtigsten eingeschätzte Lebensbereich, und zwar sowohl 1990 als auch 2018. Tendenziell - und das mag überraschen - ist die Bedeutung der Familie gestiegen, in vier der zwölf Länder ist sie gleich geblieben oder, wie in Österreich, marginal gesunken.
  • Freunde und Bekannte (2018 zwischen 28% und 65%) haben in neun von zwölf Ländern an Bedeutung gewonnen, zum Großteil, wie in Österreich, sogar sehr deutlich. Ausnahme sind die Niederlande, Schweden und Norwegen: Hier hat die Bedeutung der Freunde nachgelassen, in Schweden und Norwegen liegt der Wert von 2018 dennoch über jenem aller anderen Länder. Man könnte sagen, Europa hat sich dem skandinavischen Niveau angenähert.
  • Tendenziell gleichbleibend oder sinkend ist die Bedeutung der Arbeit, deren Werte 2018 zwischen 40% und 74% liegen. Der Abwärtstrend gilt für acht der zwölf Staaten, wobei Arbeit in den Niederlanden (-16%), Tschechien (-11%) und Österreich (-11%) den größten Bedeutungsverlust erfährt. Umgekehrt gab es in Italien (+12%) und Portugal (+24%) die größten Zuwächse. Ein Zusammenhang dieser Entwicklung mit der Arbeitsmarktlage ist unverkennbar: Bei den erstgenannten Ländern lag die Arbeitslosenquote im Zeitraum von 2010 bis 2020 deutlich unter, bei den letztgenannten über dem EU-Schnitt.6
  • Ganz eindeutig ist der Bedeutungszuwachs der Freizeit (Werte 2018 zwischen 27% und 61%): Sie hat in allen Ländern zugenommen, teilweise hat sich der Wert, wie in den mittel-/osteuropäischen Ländern, fast verdoppelt, in Portugal (von 17% auf 49%) fast verdreifacht. Auch hier ähneln die Werte immer mehr jenen der skandinavischen Länder, wo der Lebensbereich Freizeit bereits 1990 hohe Werte erzielte und die Balance von Berufs- und Privatleben einen hohen Stellenwert hat.
  • Deutlich niedriger, nämlich 2018 zwischen 7% und 49%, liegt europaweit die Wichtigkeit von Religion. Religion ist jener Lebensbereich, dessen Bedeutung in den meisten Ländern (sieben von zwölf) abgenommen hat, am deutlichsten (-10%) in Österreich. Gestiegen ist die Wichtigkeit von Religion in Rumänien (+8%), Estland (+3%) und Portugal (+3%).
  • Geringere Werte als Religion weist nur der Lebensbereich Politik auf: Seine Wichtigkeit liegt 2018 zwischen 4% und 21%. Im Gegensatz zur Religion nehmen die Werte von Politik allerdings tendenziell leicht zu, am stärksten in Schweden (+20%).

 

Österreich ist kein Einzelfall

Zusammenfassend lassen sich bei der internationalen Analyse der Lebensbereiche durchaus Gemeinsamkeiten mit der Entwicklung in Österreich erkennen: Die Familie ist der dominante Lebensbereich. In den meisten Ländern ist ihre Bedeutung noch höher als in Österreich, der Abstand zum nächstwichtigsten Lebensbereich ist in jedem einzelnen Land deutlich. Freunde und Freizeit gewinnen an Bedeutung, vor allem die mittel-/osteuropäischen Lände, die baltischen Staaten und Portugal holen hier stark auf. Der Trend zum "Mikrosozialen" ist kein österreichisches Phänomen, sondern eine Entwicklung in vielen europäischen Ländern.

Europaweit scheint es auch einen Nachholbedarf hinsichtlich einer besseren Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu geben: Betrug 1990 der Abstand zwischen der Bedeutung von Arbeit und Freizeit durchschnittlich 22 Prozentpunkte, hat sich diese Distanz 2018 auf 9 Prozentpunkte reduziert. In Schweden und den Niederlanden ist die Bedeutung der Freizeit sogar höher als jene der Arbeit.

Ebenfalls im europäischen Trend liegt die im Vergleich zu den anderen Lebensbereichen geringe Bedeutung von Religion und Politik. Dass der Bedeutungsverlust von Religion in Österreich am stärksten ist, hat wohl mit den hier besonders starken kirchenpolitischen Konflikten der vergangenen drei Jahrzehnte zu tun.

Christian Friesl

 

Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Christian Friesl, MBA ist seit 2001 Universitätsdozent am Institut für Praktische Theologie sowie Bereichsleiter für Bildung und Gesellschaft in der österreichischen Industriellenvereinigung. Er ist zudem seit 2017 Leiter des Forschungsverbunds Interdisziplinäre Werteforschung.

Kontakt: christian.friesl@iv.at

 

Anmerkungen:

1 In der Tabelle werden Unterschiede ab zwei Prozentpunkten als Zunahme oder Abnahme gewertet.

2 Zu einer ähnlichen Reihenfolge der Lebensbereiche, wenn auch mit anderer Skalierung, kommt der IV-Zukunftsmonitor 2019: Vgl. https://zukunftsmonitor.at/keyfindings/keyfindings-archiv-2019/gesellschaft-2020/ (abgerufen 20.01.2021)

3 Aichholzer, J./Friesl., C./Rohs, P., Wertewandel in Österreich: Ein Blick auf 30 Jahre, in: Aichholzer, J. u.a. (Hg.), Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018, Wien 2019, 242-273, 260.

4 Diesen Wandel konstatieren auch die Autor*innen des Social Survey Österreich: Vgl. Müller Kmet, B. / Weicht, B., Relevanz von zentralen Lebensbereichen, in: Bacher, J. u.a. (Hg.), Sozialstruktur und Wertewandel in Österreich. Trends 1986-2016, Wiesbaden, 2019, 25-50.

5 Vgl. Verwiebe, R./Seewann, L., Der Wandel des Arbeitsmarktes und Einstellungen zur Arbeit in Österreich, in: Aichholzer, J. u.a. (Hg.), Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018, Wien 2019, 36-56, 45ff.

6 Vgl. http://wko.at/statistik/eu/europa-arbeitslosenquoten.pdf (abgerufen 20.01.2021).