Werte - Zoom, Nummer 3

Sozialer Zusammenhalt, Teil II: Verbundenheit und Solidarität

11.09.2020

Besonders seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wird dem Thema des gesellschaftlichen Zusammenhalts große Bedeutung beigemessen. In der vorherigen Ausgabe des Werte – Zooms wurde exemplarisch ein Teilaspekt dessen, nämlich soziale Beziehungen anhand des interpersonalen Vertrauens, beleuchtet. Nun soll es im zweiten Teil um zwei weitere wichtige Facetten sozialer Kohäsion gehen: zum einen um den Bereich Verbundenheit und zum anderen um Solidarität. Auch hier bietet der internationale Vergleich der EVS-Daten einige bemerkenswerte Befunde.

 

Zugehörigkeit und Identifikation mit unterschiedlicher Reichweite

Eine wichtige Rolle hinsichtlich sozialer Kohäsion spielt die Frage nach der Verbundenheit, die das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen und geografischen Einheit und die Identifikation damit umfasst. Hierunter fällt beispielsweise das Empfinden, Mitglied einer bestimmten Gruppe zu sein und somit eine Art Wir-Gefühl zu entwickeln. Dies kann sich gleichzeitig tendenziell auch günstig auf die Zusammengehörigkeit und eine gegenseitige wohlwollende Interaktion innerhalb dieses sozialen Raumes auswirken und im Einzelnen auch geteilte Werte, Lebensweisen und Sozialisierungskontexte beinhalten bzw. über diese vermittelt sein.1 Mit dem Zugehörigkeits- und Identifikationsgefühl können freilich auch Abgrenzungstendenzen zu anderen sozialen und geografischen Einheiten einhergehen, was dann dazu führen könnte, dass es zwar eine größere Binnenkohäsion (innerhalb der jeweiligen Gruppe) gäbe, die jedoch zulasten der Kohäsion auf anderer (in der Regel übergeordneter) Ebene ginge.

Spannend mit Blick auf Verbundenheit ist vor allem die Frage, mit welcher geografischen Einheit sich die Befragten in den einzelnen Ländern besonders stark verbunden fühlen, d.h. ob sie einen eher lokalen und regionalen oder einen primär nationalen oder gar einen vorwiegend europäischen oder internationalen Fokus besitzen. Erfragt wurde dies, indem die Befragten gebeten wurden: „Sagen Sie mir bitte, wie nahe verbunden fühlen Sie sich mit…“. Auf einer vierstufigen Skala (sehr stark; stark; nicht sehr stark; überhaupt nicht stark) konnte hier die Verbundenheit zum Wohnort, zur Wohnregion, zum eigenen Land, zu Europa sowie zur ganzen Welt angegeben werden. In Grafik 1 ist eine Auswahl der entsprechenden Ergebnisse abgebildet.2

Grafik: B. Veit

Nationaler, aber auch regionaler Fokus in Österreich

Österreich zeichnet sich durch ein relativ hohes Maß an Zugehörigkeit und Identifikation sowohl mit der lokalen und regionalen als auch mit der nationalen Ebene aus. Die höchsten Werte erreicht hierbei die Verbundenheit mit dem Land Österreich (2,37), knapp vor dem Wohnort (2,33) und der Region (2,31) – letzterer Wert bedeutet eine Position im erweiterten Spitzenfeld. Damit fügt sich Österreich gleichzeitig in eine Reihe mit allen nordeuropäischen und den meisten west- und mitteleuropäischen Staaten ein, die allesamt das höchste Ausmaß an Verbundenheit mit der nationalen Ebene aufweisen. Demgegenüber tendieren insbesondere die meisten ost- und südosteuropäischen Länder dazu, sich am stärksten mit dem jeweiligen Wohnort verbunden zu fühlen.

Betrachtet man die Mittelwerte der einzelnen Länder, weisen die Slowakei, Norwegen und Spanien ein besonders hohes Maß an lokaler und regionaler Verbundenheit auf, wobei diese Länder auch bei der Verbundenheit mit Europa und der ganzen Welt auf überdurchschnittliche Werte kommen. Deutlich geringer fällt die lokale und regionale Zugehörigkeit hingegen in Ländern wie Frankreich, Island, den Niederlanden und Albanien sowie insbesondere auch Großbritannien aus. Das geringste Ausmaß an Verbundenheit mit Europa zeigen – aus geografischen sowie politischen Gründen wenig überraschend – Weißrussland, Georgien, Albanien, Aserbaidschan und Russland. Allerdings weisen genau jene Länder zugleich auch die niedrigsten Werte bezüglich der Verbundenheit mit der ganzen Welt auf. Dass ein hohes Maß an Europa-Verbundenheit nicht unbedingt mit einer EU-Mitgliedschaft einhergeht, beweist Norwegen, wo allerdings auch von allen Ländern die höchste Verbundenheit mit der ganzen Welt geäußert wurde. Österreich befindet sich bei der Verbundenheit mit Europa im Mittelfeld (1,81), mit Blick auf die Verbundenheit mit der Welt sogar nur im unteren Mittelfeld (1,48).

Generell zeigen die Daten ein heterogenes und uneinheitliches Bild in Bezug auf die Zugehörigkeit und den Zusammenhang mit Kohäsionsindizes, die versuchen, das Ausmaß sozialer Kohäsion abzubilden.3 Einzig die Verbundenheit mit dem eigenen Land scheint in Staaten, die ein höheres Ausmaß an sozialer Kohäsion besitzen, höher zu sein als in weniger sozial kohäsiven Staaten. Dies bedeutet gleichzeitig auch, dass eine hohe Verbundenheit mit dem eigenen Land – verstanden als Zugehörigkeit und Identifikation hiermit – ähnlich wie schon das interpersonale Vertrauen eine wichtige Ressource des sozialen Zusammenhalts sein dürfte. Zugleich zeigen die EVS-Daten auch, dass dies nicht notwendigerweise zulasten der kleineren (Wohnort, Region), aber auch der größeren sozialen Einheiten (Europa, Welt) gehen muss.

Grafik: B. Veit

Solidarität: Etwas für alle oder ein gestuftes Phänomen?

In Zusammenhang mit Fragen der Verbundenheit steht auch ein anderer ausgewählter Themenbereich sozialer Kohäsion, nämlich die Solidarität und ihre Reichweite. Grundsätzlich wird darunter verstanden, dass sich Personen für ihre Mitmenschen verantwortlich fühlen und sich gegenseitig unterstützen.4 In der EVS wurde dies mit Hilfe der Frage, wie viel jemandem an den Lebensbedingungen bestimmter Gruppen liegt, ermittelt. Zunächst wurde der Solidaritätsradius5 erhoben, indem die Solidarität mit verschiedenen Personengruppen, angefangen von Menschen in der Nachbarschaft über Menschen in der Region, Landsleuten, Europäern bis hin zu allen Menschen auf der Welt erfasst wurde. In einem zweiten Schritt wurde die Solidarität mit spezifischen Personengruppen im Inland, namentlich älteren Menschen, Arbeitslosen, Zuwanderern sowie Kranken und Behinderten, abgefragt. Geantwortet werden konnte jeweils mit Hilfe einer fünfstufigen Skala von „sehr viel“ bis „überhaupt nichts“. In den Grafiken 2 und 3 werden die entsprechenden Ergebnisse grafisch dargestellt.6

Mit Blick auf die österreichischen Ergebnisse zeigt sich folgendes Bild: Mit Ausnahme der Solidarität mit allen Menschen auf der Welt, wo Österreich einen Platz im oberen Mittelfeld belegt, scheint die Solidarität der Befragten in Österreich im europaweiten Vergleich stark ausgeprägt zu sein: Österreich liegt jeweils unter den Top 3 und weist zugleich bei der Solidarität mit Europäern gemeinsam mit Deutschland sogar den Höchstwert (2,41) auf. Spannend ist jedoch auch die Beobachtung, dass die Befragten in Österreich angaben, dass ihnen mehr an den Lebensbedingungen von Europäern liege als an denen von Menschen auf der ganzen Welt. Dies war sonst nur in vier weiteren Ländern der Fall (Ungarn, Tschechien, Bulgarien und Aserbaidschan). Insgesamt zeigen sich mit Blick auf den Solidaritätsradius erneut recht unterschiedliche Muster: So weisen beispielsweise Staaten wie Armenien, Georgien und Montenegro lediglich eine hohe Solidarität im lokalen, regionalen und nationalen Bereich auf. Hier lässt sich also von einem engeren Radius der Solidarität sprechen. In anderen Ländern wie Serbien, Russland, Ungarn, Polen, Slowenien, Kroatien, Estland und Weißrussland, aber auch in den Niederlanden, in Frankreich sowie in Rumänien ist der Umfang der Solidarität hingegen generell laut Selbstauskunft der jeweiligen Befragten nicht besonders stark ausgeprägt.

Grafik: B. Veit

Differenzierungen der Solidarität oft auch im Inland

Für einzelne der letztgenannten Länder trifft der Befund niedrig ausgeprägter Solidarität auch bezüglich vulnerabler Gruppen im Inland zu: Dies gilt insbesondere für Ungarn, Estland und die Niederlande. Anders ist hingegen die Situation in Georgien, Albanien, Armenien und Deutschland, wo die Befragten ein besonders hohes Maß an Solidarität mit älteren Menschen, Arbeitslosen, Zuwanderern sowie Kranken und Behinderten bekundeten. In Österreich gestaltet sich die Situation etwas differenzierter: Ein recht hohes Maß an Solidarität gilt älteren sowie kranken und behinderten Menschen – hier belegt Österreich einen Platz im Spitzenfeld. Anders hingegen ist es bezüglich Arbeitslosen und Zuwanderern: Dort befindet sich Österreich im Mittelfeld und der Umfang der Solidarität reduziert sich bereits merklich. Gleichwohl befindet sich Österreich damit bei der Solidarität mit Zuwanderern noch weit entfernt von besonders zuwanderungskritischen Ländern wie Ungarn, Russland, Tschechien, Aserbaidschan und Estland.

Bemerkenswert ist darüber hinaus die Tatsache, dass sich scheinbar ein gewisser Zusammenhang mit bestimmten lokalen Gegebenheiten erkennen lässt: So ist beispielsweise in den Niederlanden, einem Land mit besonders permissiver Sterbehilfegesetzgebung, die Solidarität mit älteren Menschen europaweit am geringsten ausgeprägt.7 Auch die Solidarität mit Arbeitslosen scheint stark davon abhängig zu sein, wie hoch die Arbeitslosenquote im entsprechenden Land ist: So weisen Tschechien, Ungarn und die Niederlande sehr niedrige Arbeitslosigkeitsraten8 auf. Zugleich gibt es hier nur eine sehr gering ausgeprägte Solidarität mit Personen, die dennoch arbeitslos sind. Möglicherweise wird Arbeitslosigkeit hier also stärker eigenem Verschulden zugeschrieben.

 

Fazit: Unterschiedliche Voraussetzungen und Ressourcen

Anhand der exemplarisch ausgewählten Teilaspekte von sozialer Kohäsion konnte gezeigt werden, wie unterschiedlich die jeweiligen Voraussetzungen in den einzelnen europäischen Ländern sind, zum einen mit Blick auf die örtlichen Gegebenheiten, zum anderen aber auch hinsichtlich der vorhandenen Ressourcen des sozialen Zusammenhalts. Gerade in Krisenzeiten wie momentan, wenn sich zuvor gewohnte Dinge rapide verändern und Gesellschaften als ganze herausgefordert sind, zeigt sich, wie sehr einzelne Gesellschaften in der Lage sind zusammenzuhalten, die vorhandenen Ressourcen anzuzapfen und somit auch verschiedenen zentrifugalen Tendenzen mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu widerstehen, um so die aktuelle Bewährungsprobe im Umfeld der Pandemie zu bestehen. Hilfreich sind dabei u.a. ein hohes Ausmaß an interpersonalem Vertrauen, eine starke Verbundenheit untereinander sowie eine überdurchschnittlich ausgeprägte Solidarität, wie sie sich u.a. in spontanen Aktionen der Nachbarschaftshilfe in der Corona-Zeit zeigte.

Daneben können die Daten der Europäischen Wertestudie auch Aufschluss geben, was wo in Zukunft zur Stärkung der sozialen Kohäsion getan werden muss bzw. welche Aspekte sozialen Zusammenhalts in den einzelnen Ländern wie ausgeprägt sind und somit auch, wo Verbesserungspotenziale liegen. Dass dies freilich auch von anderen Faktoren wie beispielsweise sozioökonomischen Rahmenbedingungen beeinflusst wird, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden. Neueste Untersuchungen zum sozialen Zusammenhalt in Deutschland legen nahe, dass die Auswirkungen der Corona-Pandemie mit Blick auf die Kohäsion nicht so sehr auf nationaler Ebene deutlich werden, sondern erst in der Detailanalyse einzelner gesellschaftlicher Teilgruppen, die stärker betroffen sind (u.a. jüngere Personen mit geringem Einkommen, aber auch Alleinerziehende oder Personen mit Migrationshintergrund).9 Gerade hier liegt auch die Herausforderung, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und eine gerechte Teilhabe aller zu ermöglichen.

Patrick Rohs

 

Mag. Patrick Rohs, BSc ist seit 2018 Universitätsassistent (prae-doc) am Institut für Praktische Theologie. Er hat Katholische Fachtheologie und Psychologie in Wien und Trier studiert und koordiniert die Arbeitsgemeinschaft Interdisziplinäre Werteforschung. In seiner Dissertation setzt er sich mit dem Thema „Wertebildung und Soziale Kohäsion – Chance und Herausforderung für Theologie und Kirche“ auseinander.

Kontakt: patrick.rohs@univie.ac.at

 

Anmerkungen:

1 Vgl. D. Schiefer, J. van der Noll, J. Delhey, K. Boehnke, Kohäsionsradar: Zusammenhalt messen – Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland – ein erster Überblick, hg. von der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2012, 46-53.

2 Die vollständigen (bis jetzt vorliegenden) Länderdaten zur Verbundenheit können hier eingesehen werden.

3 Vgl. z.B. G. Dragolov, Z. Ignácz, J. Lorenz, J. Delhey, K. Boehnke, Social Cohesion Radar – Measuring Common Ground. An International Comparison of Social Cohesion, hg. von der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2013, 29f. oder J. Delhey, G. Dragolov, Happier together. Social Cohesion and subjective well-being in Europe, in: International Journal of Psychology 51 (2016), 163-176, 168.

4 Vgl. D. Schiefer, J. van der Noll, J. Delhey, K. Boehnke, Kohäsionsradar: Zusammenhalt messen – Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland – ein erster Überblick, hg. von der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2012, 54-60.

5 Vgl. J. Aichholzer, Diversität und Solidarität: Der Umgang mit sozialer Vielfalt und sozialer Zusammenhalt in Österreich. In: ders., Christian Friesl, Sanja Hajdinjak, Sylvia Kritzinger (Hg.), Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018, Wien 2019, 174-205, 189-192.

6 Die vollständigen (bis jetzt vorliegenden) Länderdaten zum Solidaritätsradius können hier bzw. hier eingesehen werden.

7 Freilich kann und soll damit kein kausaler Zusammenhang behauptet werden.

8 Vgl. für das Erhebungsjahr 2017 Eurostat-Pressestelle (Hg.), Arbeitslosenquote im Euroraum bei 9,1% (31.07.2017): https://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/8121460/3-31072017-AP-DE.pdf  (abgerufen 08.09.2020).

9 Vgl. T. Brand, R. Follmer, K. Unzicker, Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2020 – Eine Herausforderung für uns alle. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstudie, hg. von der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2020.