Werte - Zoom, Nummer 13
Worauf legen wir noch Wert?
Sonderedition zur Semesterfrage der Universität Wien im Wintersemester 2021/22
20.01.2022
Die aktuelle Semesterfrage der Universität Wien lautet: "Worauf legen wir noch Wert?". Wir möchten diese Frage wörtlich nehmen und sie mit den Daten der Europäischen Wertestudie (EVS) von 1990 bis 2018 und unter Zuhilfenahme bisheriger "Werte-Zooms" beantworten. Wir tun dies in zwei Richtungen und nehmen das "noch" in der Frage als Weiche: Das vergangenheitsorientierte "noch" fragt: Was ist den Österreicher*innen nach 30 Jahren immer noch wichtig? Das gegenwartsbezogene "noch" will wissen: Was ist dazugekommen und ist heute wichtiger als früher? Zu beiden Richtungen fassen wir hier ausgewählte Ergebnisse zusammen.
Worauf wir immer noch Wert legen
Fragt man die Österreicher*innen nach dem für sie wichtigsten Lebensbereich, wird als erstes "Familie" genannt ("sehr wichtig" 1990: 84%, 2018: 82%). Familie rangiert damit deutlich vor Freunden, Arbeit oder Freizeit und erweist sich über 30 Jahre hinweg als Wunschbild von Stabilität und emotionaler Sicherheit. Aber nicht nur den Österreicher*innen ist Familie wichtig: Im internationalen Vergleich1 zeigt sich, dass Familie - 2018 mit Werten zwischen 68 und 92 Prozent - in allen Ländern der wichtigste Lebensbereich ist, und zwar sowohl 1990 als auch 2018. Tendenziell, und das mag überraschen, ist die Bedeutung der Familie gestiegen, in vier von zwölf untersuchten Ländern ist sie gleichgeblieben oder nur marginal gesunken.
Ähnlich überraschend ist die positive Haltung der Österreicher*innen zu "ihren" gesellschaftlichen Institutionen. Im Vergleich der vergangenen 30 Jahre haben von elf in allen Wellen erhobenen Institutionen neun an Vertrauen gewonnen und nur zwei (große Unternehmen und Kirche) Vertrauen verloren.2 An der Spitze der Rangliste steht 2018 die Polizei (85%), es folgen Gesundheitswesen (83%), Sozialversicherungssystem (76%), Rechtssystem (73%), Bildungssystem (68%) und Bundesheer (63%). Auch diese Ergebnisse können wohl mit einem zunehmenden Wunsch nach Sicherheit und Ordnung erklärt werden, allerdings: Es könnte auch sein, dass manche Institutionen ihre Leistung oder Wirkung verbessert haben und die Befragten dies mit mehr Vertrauen belohnen. Das Austrian Corona Panel Project (ACPP 2021) bestätigt diese Ergebnisse im Wesentlichen, deutet aber auch an, dass das Vertrauen in mehrere Institutionen im Zuge der Corona-Pandemie wieder sinkt.3
Nicht zu erwarten war auch, dass in Zeiten von Pluralisierung und Säkularisierung die Einstellung der Österreicher*innen zu Religion und Gott relativ stabil ist, wobei hier deutlich differenziert werden muss. Das religiöse Selbstverständnis in Österreich ist hoch und hat nur wenig nachgelassen: 2018 stimmen fast zwei Drittel (63%) der Selbstbezeichnung als "religiöse Person" zu, 30 Jahre zuvor waren es 69%. 2018 geben 73% aller Befragten an, an Gott zu glauben, ein im Vergleich zu 1990 (76%) geringer Rückgang. Wie vor 30 Jahren glaubt ein knappes Drittel der Bevölkerung an einen persönlichen Gott (1990: 28%, 2018: 30%), rund die Hälfte an ein höheres Wesen oder an eine geistige Macht (1990: 50%, 2018: 48%). Die subjektive Religiosität in Österreich bleibt also vergleichsweise hoch.4
Nun zur Differenzierung: Dass in Österreich Religiosität und Gottesglaube relativ stabil bleiben, ist zum Teil dem gewachsenen Anteil von orthodoxen und muslimischen Mitgliedern in der Gesellschaft zu verdanken. Ein Blick in die Binnenperspektive der Religiosität macht deutlich, wie fragmentiert und pluralistisch sie ist, und zwar nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Religionen.5 Und auch international zeigt sich ein buntes Bild: Die Spannweite beim Selbstverständnis als "religiöser Mensch" und beim Glauben an Gott etwa ist in Europa enorm groß.6
Worauf wir stärker Wert legen
Neben diesen Befunden zur Kontinuität von Werten lassen sich auch markante Veränderungen bezüglich dessen konstatieren, was "uns" in Österreich im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte wichtiger geworden ist. Zumindest teilweise weisen diese Entwicklungen auch Entsprechungen in anderen europäischen Ländern auf.
Ein erster Aspekt betrifft den Zusammenhang von Arbeit und Freizeit. Die Arbeitswelt durchlief in den vergangenen drei Jahrzehnten mehrere größere Veränderungsprozesse7, worauf die Menschen in spezifischer Weise reagieren. Bereits in einer früheren Werte-Zoom-Ausgabe8 zeigte sich deutlich, dass in Österreich Freizeit im Vergleichszeitraum zwischen 1990 und 2018 tendenziell wichtiger (+12%), Arbeit dagegen weniger wichtig wurde (-11%). Damit werden Arbeit und Freizeit als ähnlich wichtig eingeschätzt ("sehr wichtig": 50% vs. 48%). Während der Zuwachs bei denjenigen, die Freizeit für "sehr wichtig" halten, nahezu überall in Europa nachweisbar ist, lassen sich hinsichtlich der Bedeutung des Lebensbereichs Arbeit sehr unterschiedliche Entwicklungen beobachten, die in Teilen auch die verschiedenen Situationen des Arbeitsmarktes widerspiegeln. Insbesondere in südeuropäischen Ländern beispielsweise sind Zuwächse bei der Einschätzung der Wichtigkeit von Arbeit ersichtlich.
In Österreich wird zudem ein wachsender Anspruch an die berufliche Arbeit erkennbar: Neben "guter Bezahlung" wird der Wunsch nach "angenehmen Arbeitszeiten" (vor allem von Frauen) geäußert und intrinsischen Aspekten wie dem "Gefühl, etwas zu erreichen" sowie der "Möglichkeit, eigene Initiative zu entfalten" oder einen "Beruf mit Verantwortung" auszuüben, mehr Bedeutung beigemessen.9 Vor allem in Anbetracht der Veränderungen im Arbeitskontext scheinen zumindest in Österreich mehr und andere Erwartungen an einen Beruf geknüpft zu werden: Im Idealfall lässt sich jener auch gut mit den privaten Lebensbereichen in Verbindung bringen.
Ein weiteres Feld, in dem sich die Werthaltungen über die vergangenen drei Jahrzehnte hinweg massiv verändert haben, betrifft den Bereich der verantworteten Individualität, die sich an verschiedenen Punkten ablesen lässt, insbesondere an leitenden Werten für die individuelle Lebensgestaltung. Die Menschen in Österreich legen im Zuge von Individualisierungsprozessen vor allem Wert auf persönliche Eigenverantwortung und wollen Entscheidungen selbstbestimmt treffen. Zwar wird - wie eingangs geschildert - der Wert der Familie nach wie vor sehr hoch angesehen, aber es treten andere Modele neben die klassische Familie, die zunehmend eine positive Wertschätzung erfahren, und auch die Geschlechterrollen sowie damit verknüpfte Erwartungen verändern sich.10
Hinsichtlich der persönlichen Lebensgestaltung treten Individualisierungsprozesse zutage, was sich insbesondere auch an Moralfragen ablesen lässt, die sich im Vergleich von 1990 zu 2018 teilweise deutlich verändert haben. Das betrifft vor allem die Einschätzung von Homosexualität, Abtreibung, Scheidung, Euthanasie, Suizid und weichen Drogen. Diese Einstellungen werden zunehmend dem privaten Bereich zugeschrieben, als je persönliche Entscheidung gesehen und deutlich "liberaler" gehandhabt als vor 30 Jahren. Europaweit werden hier unterschiedliche Bewertungen sichtbar: Während sich in einigen Staaten Nord- und teilweise auch Westeuropas (z.B. Schweden oder Niederlande) dieser bereits früher als in Österreich zeigte, vertreten die Befragten in den meisten (süd-)osteuropäischen Staaten häufiger traditionelle Positionen.11
Ein dritter Bereich umfasst das komplexe Themenfeld Zuwanderung, Diversität und nationale Identität, wo sich mit Blick auf den Zeitraum von 1990 bis 2018 ebenfalls ein Wandel erkennen lässt. Zum einen ist Österreich in diesem Zeitraum nicht nur kulturell und bezüglich seiner bevölkerungsmäßigen Zusammensetzung, sondern auch religiös diverser geworden. Zwar lässt sich nach wie vor eine deutliche Distanz gegenüber bestimmten Gruppen wie Roma und Sinti, Muslimen sowie "Zuwanderern" als generalisierte Gruppe beobachten. Gleichzeitig wächst die Akzeptanz von Zuwanderung, wenn auch langsam und besonders im arbeitsmarktbezogenen Kontext. Auch nationale Identität wird zunehmend inklusiver definiert, die Bedeutung der Herkunft für die Identität als Österreicher oder Österreicherin sinkt: Bei den Kriterien dafür, "wirklich österreichisch zu sein", werden Aspekten wie Einhaltung von Gesetzen, Respekt vor Institutionen und Sprachkompetenz mehr Bedeutung beigemessen als Merkmalen der Abstammung, wie Geburtsort und österreichische Vorfahren.12
Die Antwort auf die Frage "Worauf legen wir noch Wert?" ist vielschichtig wie die Frage selbst. Werthaltungen ändern sich langsam, aber sie verändern sich. Demografische Entwicklungen, sozioökonomische Faktoren und Pluralisierungsprozesse sind wesentliche Treiber dieser Veränderung und lassen die Ausdifferenzierung der Gesellschaft spürbar werden. Auch die Corona-Pandemie wird ihren Teil zur Veränderung der Werthaltungen beitragen: Wir werden diese Entwicklung verfolgen und beobachten, ob Covid-19 zu einem Beschleuniger des Wertewandels wird.
Christian Friesl, Patrick Rohs
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Christian Friesl, MBA ist seit 2001 Universitätsdozent am Institut für Praktische Theologie sowie Bereichsleiter für Bildung und Gesellschaft in der österreichischen Industriellenvereinigung. Er ist zudem seit 2017 Leiter des Forschungsverbunds Interdisziplinäre Werteforschung.
Kontakt: christian.friesl@iv.at
Mag. Patrick Rohs, BSc ist seit 2018 Universitätsassistent (prae-doc) am Institut für Praktische Theologie. Er hat Katholische Fachtheologie und Psychologie in Wien und Trier studiert und koordiniert die Arbeitsgemeinschaft Interdisziplinäre Werteforschung. In seiner Dissertation setzt er sich mit dem Thema "Wertebildung und Soziale Kohäsion - Chance und Herausforderung für Theologie und Kirche" auseinander.
Kontakt: patrick.rohs@univie.ac.at
Anmerkungen:
1 Vgl. Werte-Zoom, Nummer 6: Zentrale Lebensbereiche - Der Trend zum "Mikrosozialen".
3 Vgl. Kowarz, N./Pollak, M., Wer vertraut dem Staat? Institutionenvertrauen in Zeiten von Corona, https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog70/ (11.1.2022).
6 Vgl. Werte-Zoom, Nummer 4: Religion im - religionspolitisch bedingten - Umbruch?
8 Vgl. Werte-Zoom, Nummer 6: Zentrale Lebensbereiche - Der Trend zum "Mikrosozialen".
10 Vgl. Werte-Zoom, Nummer 5: Generationenkontraste in der Einstellung zur Erwerbstätigkeit von Müttern; Werte-Zoom, Nummer 7: Generationenkontraste in der Einstellung zu gleichgeschlechtlichen Eltern; Berghammer, C./Schmidt, E.-M., Familie, Partnerschaft und Geschlechterrollen: Alles im Wandel? In: Aichholzer, J. et al., Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018, Wien 2019, 57-88.