Werte - Zoom, Nummer 9

Ist Einheit in Vielfalt noch möglich?

Teil I: Die Sichtweise der europäischen Bevölkerung zu zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart

10.09.2021

Entgegen den Hoffnungen der europäischen Integrationspolitik, Einheit in der Vielfalt zu propagieren, haben sich ökonomische und kulturelle Spaltungslinien zwischen europäischen Großregionen in letzter Zeit vertieft. Dies zeigen auch die Daten der jüngsten Europäischen Wertestudie (2017-2019), wenn man die Sichtweise der europäischen Bevölkerung zu zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen in den Blick nimmt. Diese sind aus Sicht des Autors ökonomische Umverteilung, interkulturelle Verständigung und die Förderung des Umweltbewusstseins. Während die Präferenz für Umverteilung speziell in Krisenzeiten an Bedeutung gewinnen könnte, besteht insbesondere zwischen West- und Osteuropa eine tiefe Kluft im Umgang mit kultureller Diversität und auch in Bezug auf Umweltschutz zeigt sich ein deutliches Gefälle zwischen prosperierenden westeuropäischen Staaten, Ländern mit Krisenanzeichen in Südeuropa und osteuropäischen Staaten. Auch im Zeitvergleich über die letzten vier Erhebungswellen der EVS (1990, 1999, 2008 und 2017) ist keine verstärkte Hinwendung zu diesen zentralen gesellschaftspolitischen Zielen zu erkennen.

 

Ökonomische und kulturelle Spaltungen innerhalb Europas

Für die Europäische Kommission und für die europäischen Eliten stellen "Europe Building" und die Vermittlung einer gemeinsamen europäischen Identität zentrale Zielsetzungen der europäischen Integration dar.1 Auch die EU-Verfassung2 gibt einen klaren Rahmen vor, der gemeinsame Grundwerte (z.B. Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte) und politische Ziele (z.B. Friedenssicherung, Binnenmarkt, soziale Marktwirtschaft, Währungsunion, Gleichberechtigung und Solidarität) für die Europäische Union festschreibt. Dennoch zeichnet sich im Zuge der Krisen der vergangenen Jahre (von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 über die Fluchtbewegungen 2015 bis zu den Auswirkungen der aktuellen Corona-Pandemie) ab, dass sich in Europa zunehmend wirtschaftliche und kulturelle Spannungsfelder manifestieren, die zur Ausformung verschiedener europäischer "Länderfamilien" beitragen. Wir sehen eine Kräftekonzentration in den nord- und westeuropäischen, wohlhabenden Staaten, während sich insbesondere im europäischen Süden ein stärkeres Wohlstandsgefälle beobachten lässt.3 Zusätzlich lassen sich kulturelle Spaltungslinien zu den Visegrád-Staaten erkennen, die zwar in ökonomischer Hinsicht zunehmend zum europäischen Zentrum aufschließen, aber kulturell einen eigenständigen Pfad der Modernisierung einschlagen. Auch im Baltikum und in Südosteuropa führt die europäische Integration nicht zu einer Angleichung der Strukturen und Werthaltungen, sondern bewirkt, dass unterschiedliche ökonomische, institutionelle und kulturelle Pfadabhängigkeiten weiterbestehen und diese wohl nur unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Systemtransformationen in den 1990er-Jahren und historisch gewachsener Strukturen zu erklären sind.4

 

Vier heterogene Regionen in der EU - eine Clusteranalyse

Diese Aufteilung in multiple Europas lässt sich auch anhand einer Clusteranalyse von 25 EU- und EFTA-Staaten5 auf Basis von Kernindikatoren der ökonomischen, politischen und sozialen Lage im Jahr 2018 bestätigen (siehe Tabelle 1). Die Ergebnisse zeigen, dass das BIP pro Kopf in den westlich-prosperierenden Staaten am höchsten und die Einkommensungleichheit eher unterdurchschnittlich ist, wobei der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in den westeuropäischen Staaten am höchsten ausfällt. Insbesondere im Vereinigten Königreich und in Südeuropa mehren sich jedoch Krisenanzeichen, welche die Sozialintegration der Bürger*innen erschweren. So ist der Anteil prekär Beschäftigter bzw. vom Arbeitsmarkt entkoppelter Individuen höher und auch das erhöhte Niveau an Staatsverschuldung lässt wenig Spielraum für arbeitsmarktunterstützende und sozialpolitische Maßnahmen. Österreich, das in der Tabelle separat ausgewiesen wird, weicht bei den meisten Indikatoren nur geringfügig vom Durchschnitt der prosperierenden Länder Westeuropas ab, wobei die Staatsverschuldung höher ausfällt und die Demokratiequalität eher im Niveau der Staaten mit Krisenanzeichen (Vereinigtes Königreich und Südeuropa) liegt. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist leicht höher als in anderen westeuropäischen Staaten.

Wenn wir den Blick nach Osteuropa wenden, so ist insbesondere in den Visegrád-Staaten ein ökonomischer Aufwärtstrend über die vergangenen Jahre zu verzeichnen (verbunden mit einem höheren Wirtschaftswachstum, niedrigen Armutsraten, geringen Staatsschulden und weniger Einkommensungleichheit im Vergleich zu den anderen osteuropäischen Ländern). Im Baltikum und in Südosteuropa ist der Trend eines starken wirtschaftlichen Wachstums (von einem niedrigeren Niveau ausgehend) ebenfalls zu beobachten, während der Anteil der Bevölkerung in Armut und sozialer Ausgrenzung aktuell noch deutlich höher ist. Während das Ausmaß kultureller Diversität in Osteuropa generell geringer ist, zeigen sich in beiden osteuropäischen Regionen Defizite in der Demokratiequalität, die über die letzten Jahre eher größer zu werden scheinen.

Grafik: B. Veit

Die Sichtweise der Bürger*innen zu drei zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen

Für die Zukunft Europas und für den innergesellschaftlichen und europäischen Zusammenhalt sind aus Sicht des Autors drei zentrale Herausforderungen gegeben. Während sich Auseinandersetzungen um den sozialen Ausgleich zwischen gesellschaftlichen Schichten stets rund um ein Mehr oder Weniger ranken, sind Konflikte rund um kulturelle Diversität als unteilbar zu sehen6 und führen zu tiefgehenden Solidaritätsbrüchen zwischen europäischen Staaten. Wenn wir die Zukunft in den Blick nehmen, stellen die Strategien zur Wiederbelebung der Wirtschaft jedoch eine Dilemma-Situation dar, weil fehlende strukturelle Anpassungen im kapitalistischen Wirtschaftssystem zur ökologischen Krise beitragen. Zusätzlich zu dieser Doppelkrise (Kapitalismus- und Ökologiekrise)7 herrscht auch zur Demokratie eine spannungsgeladene Dreiecksbeziehung, da viele Bürger*innen der Meinung sind, dass die Politik keine längerfristigen Lösungen für diese drei drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen anbieten kann. Es wird deshalb umso entscheidender sein, in der Bevölkerung einen Veränderungsdruck zu erzeugen, um systemische Wandlungsprozesse zu initiieren.

Analysiert man die Entwicklungen, ob die einheimische Bevölkerung am Arbeitsmarkt bevorzugt werden soll (Fremdenfeindlichkeit), ob Menschen bereit sind, Teile des Einkommens für die Bewahrung der Umwelt bereitzustellen (Umweltbewusstsein) und ob der Fokus auf individueller Leistung oder auf einem Ausgleich der Einkommen liegen sollte (Präferenz für Umverteilung)8, so zeigt sich einzig in wohlhabenden europäischen Staaten eine kontinuierliche Abnahme der Fremdenfeindlichkeit.9 Es ist in der Grafik auch sichtbar, dass Umverteilungspräferenzen bis zum Jahr 2010 zunehmen, aber in der letzten Erhebungswelle (in einer wirtschaftlich prosperierenden Phase vor der Corona-Pandemie) wieder zurückgegangen sind. In Österreich, das auch hier separat ausgewiesen wird, ist das Bedürfnis nach einem sozialen Ausgleich zwischen Schichten besonders ausgeprägt und erreichte in der Zeit der Euro-Krise (EVS-Welle 2008-2010) europaweit einen Spitzenwert, wobei in den vergangenen Jahren ebenfalls ein Abwärtstrend zu verzeichnen ist. Der Ethnozentrismus ist in Österreich höher ausgeprägt als in anderen Staaten, wobei auch hier eine Abnahme fremdenfeindlicher Vorurteile zu konstatieren ist. Von großer Bedeutung ist auch das Ergebnis, dass die Bereitschaft, Teile des Einkommens für den Umweltschutz aufzuwenden, in vielen westeuropäischen Staaten eher zurückgeht. Nur in wenigen Ländern - insbesondere in Deutschland und Schweden und in begrenztem Umfang auch in Österreich - ist in der jüngsten Erhebungswelle ein Trend zu mehr umweltgerechtem Verhalten ersichtlich. Diese Tendenz eines abnehmenden Umweltbewusstseins ist in Staaten mit Krisenanzeichen sogar noch ausgeprägter. Auch in diesen Ländern sind in den vergangenen Jahren die Bedürfnisse nach Umverteilung leicht gestiegen (verbunden mit stagnierenden Tendenzen seit 2010) und es tritt die deutliche Mehrheit der Bevölkerung für eine bessere soziale Balance zwischen gesellschaftlichen Schichten ein. Zudem gehen auch in diesen Ländern die ethnischen Vorurteile zurück, wobei das graduelle Ausmaß fremdenfeindlicher Einstellungen auf ähnlichem Niveau wie in Österreich ist.

Grafik: B. Veit

Wenn wir uns die zeitlichen Dynamiken in Osteuropa ansehen, können wir eine deutliche Diskrepanz zu den alten EU-Ländern erkennen. Fremdenfeindliche Ansichten sind in allen Ländern weit verbreitet und dieser Trend ist über alle Erhebungswellen der vergangenen Jahrzehnte stabil. Was die Präferenzen für die Umverteilung betrifft, so fordern jedoch große Teile der Bevölkerung - ähnlich wie in Westeuropa - eine gerechtere Einkommensverteilung. Vor allem in der Tschechischen Republik, in Slowenien und Ungarn stieg der Anteil der Bürger*innen, die für eine Umverteilung plädierten, bis zum Jahr 2008 an. Interessanterweise sind diese Forderungen auch in vielen osteuropäischen Ländern inzwischen rückläufig. Nur in Litauen, Estland, Bulgarien und der Slowakei kämpfen die Menschen noch für eine gerechtere Gesellschaft, während sich in den anderen Ländern die öffentliche Stimmung in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Zudem lässt sich in Bezug auf das Umweltbewusstsein ein deutlicher Abwärtstrend feststellen. Während große Teile der Bevölkerung (rund 80%) in den 1990er-Jahren noch bereit waren, einen Teil ihres Einkommens für die Umwelt auszugeben, hat sich die Zustimmung über die vergangenen Jahrzehnte halbiert: Es scheinen aktuell nur noch rund 40% der Bevölkerung zur Schonung der Umwelt finanziell beitragen zu wollen.

Es ist naheliegend, dass die unterschiedlichen Sichtweisen zu Umverteilung, kultureller Diversität und Naturschutz durch divergierende Werthaltungen und politische Einstellungen zwischen west- und osteuropäischen Regionen entstehen. Die aktuellen Polarisierungen in Werten und Einstellungen werden in Teil II dieses Beitrags in einer vertiefenden Betrachtung näher analysiert.

Wolfgang Aschauer

 

Anmerkung: Dieser Text stellt die Kurzfassung eines Beitrags zum Sammelband "Values - Politics - Religion" dar, der im Frühjahr 2022 im Springer-Verlag erscheinen wird.

 

Assoz. Prof. MMag. Dr. Wolfgang Aschauer ist seit 2016 Assoziierter Professor an der Abteilung Soziologie und Kulturwissenschaft der Universität Salzburg. 2015 hat er sich mit der Monografie "Das gesellschaftliche Unbehagen in der EU. Ursachen, Dimensionen, Folgen" (2017 im Springer-Verlag erschienen) habilitiert. Aktuell befasst er sich in einem breiteren soziologischen Zugang mit Herausforderungen der Sozialintegration und mit Solidaritätspotenzialen in der europäischen Gesellschaft.

Kontakt: wolfgang.aschauer@sbg.ac.at 

 

Anmerkungen:

1 Vgl. Heschl, F. (2013). Die politische Rhetorik der Europäischen Kommission. Wiesbaden: Springer VS.

2 Europäische Union (2005). Vertrag über eine Verfassung für Europa, veröffentlicht am 16. Dezember 2004 im Amtsblatt der Europäischen Union (Reihe C, Nr. 310). europa.eu/european-union/sites/europaeu/files/docs/body/treaty_establishing_a_constitution_for_europe_de.pdf (Zugriff 26.08.2021). 

3 Vgl. hierzu weiterführend z.B. Vobruba, G. (2007). Die Dynamik Europas (2. aktualisierte Auflage). Wiesbaden: Springer VS.

4 Eine nähere Analyse liefert beispielsweise Kollmorgen, R. (2009). Postsozialistische Wohlfahrtsregime in Europa. Teil der "drei Welten" oder eigener Typus? In B. Pfau-Effinger, S. Magdalenic & C. Wolf (Hrsg.), International vergleichende Sozialforschung. Ansätze und Messkonzepte unter den Bedingungen der Globalisierung (S. 65-92). Wiesbaden: Springer VS.

5 Für die hierarchische Clusteranalyse (basierend auf z-standardisierten Indikatoren, der quadrierten euklidischen Distanz und der Fusionslogik nach Ward) wurden zentrale ökonomische, politische und kulturelle Indikatoren herangezogen. Cluster 1 setzt sich aus Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden, Österreich, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz zusammen. Die zweite Gruppe umfasst Staaten mit Krisenanzeichen und zwar das Vereinigte Königreich gemeinsam mit Kroatien, Spanien, Portugal und Italien. Dem dritten Cluster konnten alle Visegrád-Länder (Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechische Republik) mit Slowenien zugeordnet werden. Die vierte Region wird durch die beiden baltischen Länder Estland und Litauen sowie durch Bulgarien und Rumänien gebildet. Die Länderkürzel sind in der Tabelle entsprechend aufgeführt, Österreich wird separat ausgewiesen.

6 Vgl. zu dieser Einteilung Hirschman, A.O. (1994). Social conflicts as pillars of democratic market society. Political Theory 22(2), 203-218.

7 Vgl. z.B. aktuell dazu Dörre, K. (2020). Die Corona-Pandemie - eine Katastrophe mit Sprengkraft. Berliner Journal für Soziologie 30(2), 165-190.

8 Alle Indikatoren wurden in allen Erhebungswellen in den Ländern abgefragt. Die Indikatoren wurden dichotomisiert, um den linearen Trend der Zustimmung vergleichbar über alle Regionen abzubilden.

9 Es gibt hier aber auch einige Ausnahmen (z.B. Dänemark, die Niederlande oder die Schweiz), wo fremdenfeindliche Haltungen in den letzten Jahren wieder zugenommen haben.