Werte - Zoom, Nummer 16

Politisches Interesse im europäischen Ländervergleich

28.06.2022

Politik ist verhältnismäßig wenigen Menschen wichtig und es interessiert sich in Europa im Durchschnitt auch nur rund die Hälfte der Bevölkerung dafür. In den nördlichen und deutschsprachigen Ländern (Deutschland, Norwegen, Österreich, Schweden, Dänemark, Island, Niederlande, Schweiz, Estland, Großbritannien) interessiert sich mehr als die Hälfte für Politik, während sich in den anderen Ländern, vorwiegend im Süden, Osten und Südosten Europas, weniger als die Hälfte für Politik interessiert. In Österreich liegt das politische Interesse beispielsweise bei 63% (EVS 2018). Das Interesse an Politik fluktuiert mit politischen Ereignissen, wie etwa der Ostöffnung 1989, dem Brexit 2016 oder der Orangenen Revolution 2005. Generell war es in den vergangenen 30 Jahren jedoch relativ stabil.

 

Wieviel ist uns die Politik wert?

Eine frühere Ausgabe des Werte-Zooms (Nummer 6: Zentrale Lebensbereiche) hat gezeigt, dass Politik im Vergleich zu anderen Lebensbereichen wie Familie, Freunde, Arbeit, Freizeit oder Religion durchwegs als der am wenigsten wichtige Lebensbereich betrachtet wird. In der jüngsten Welle der Europäischen Wertestudie (EVS)1 schätzten in Europa durchschnittlich 41% der Bevölkerung Politik als sehr wichtig oder ziemlich wichtig ein.2 Im Vergleich dazu sind für 98% die Familie, für 93% Freunde, für 90% die Arbeit, für ebenso viele Freizeit und für 48% Religion sehr oder ziemlich wichtig in ihrem Leben.

Grafik: B. Veit

Politisches Interesse im Ländervergleich

Diese geringe Wertschätzung spiegelt sich auch im generellen politischen Interesse der europäischen Befragten wider. Im Durchschnitt interessieren sich nur 48% (sehr oder etwas) für Politik.Mehrheitlich (52%) ist also auch hier eher ein Desinteresse an Politik festzustellen. Das betrifft nicht alle Länder gleichermaßen. In Deutschland (75%), Norwegen (71%), Österreich (63%), Schweden (60%), Dänemark (59%), Island (48%), den Niederlanden (48%), der Schweiz (56%), Estland (54%) und in Großbritannien (52%) interessiert sich die Mehrheit der Befragten sehr oder ziemlich für Politik, wohingegen sich der Süden, Osten und Südosten Europas im Durchschnitt eher uninteressiert an Politik zeigt. In den meisten Staaten der Balkanhalbinsel (Albanien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Rumänien) interessiert sich beispielsweise nur etwa ein Drittel der Bevölkerung sehr oder etwas für Politik. Nordmazedonien, Montenegro und Slowenien liegen mit 36% und 39% hier etwas über dem Durchschnitt ihrer Nachbarn. In Portugal und Italien ist es ebenfalls nur ein Drittel der Bevölkerung, das angibt, sich für Politik zu interessieren - in Spanien sind es mit 46% der Bevölkerung etwas mehr. In den Visegrád-Ländern Tschechien, Ungarn, Polen und Slowakei interessieren sich zwischen 37% (Slowakei) und 46% (Tschechien) der Menschen für Politik, in der Ukraine sind es 39%, in Litauen und Russland 38%, in Weißrussland 44%, in Finnland 46% und in Bulgarien 49%.

Grafik: B. Veit

Politisches Interesse im Zeitvergleich

Diese Werthaltung hinsichtlich des politischen Interesses zum Zeitpunkt der letzten EVS-Erhebung ist zwar nur eine Momentaufnahme, aber politisches Interesse ist im Zeitverlauf relativ stabil. In jenen Ländern, in denen die Bürger*innen in der letzten Runde der EVS mehrheitlich politisches Interesse bekundeten, war dies tendenziell auch bereits in den Jahrzehnten davor der Fall, während in den anderen Ländern, in denen sich die Bürger*innen mehrheitlich nicht für Politik interessieren, dieses Muster ebenfalls bereits in den Jahrzehnten davor beobachtbar war.

In den folgenden Trendverläufen wurden die Daten der vorangegangenen drei EVS-Wellen mit den Trenddaten des European Social Survey (ESS)4 und des Eurobarometers (EB)5 verknüpft, die während der vergangenen Jahre ebenfalls regelmäßig mit derselben Fragestellung zu politischem Interesse durchgeführt wurden.

Grafik: B. Veit

Zu den Ländern mit durchschnittlich höherem politischen Interesse gehören beispielsweise Österreich, Deutschland, Großbritannien, die Niederlande, Schweden oder die Schweiz. In all diesen Ländern lag das politische Interesse in den vergangenen Jahren meistens über 50%. Es lassen sich in den Trendlinien teilweise auch politische Ereignisse, die den Grad des politischen Interesses der Bürger*innen beeinflusst haben dürften, nachverfolgen.

So war zum Beispiel in Österreich das politische Interesse im Jahr 1998 auf einen Rekordtiefpunkt von 35% gesunken (für die Jahre unmittelbar davor bis 1998 liegen leider keine Daten vor), bevor die Wahlen 1999, die in komplexen Koalitionsverhandlungen, einer Regierungskoalition zwischen ÖVP und FPÖ, begleitet von erhöhter internationaler Aufmerksamkeit und nationalem Protest, endeten, fast doppelt so viele Bürger*innen, nämlich 67%, zu erhöhtem Interesse an der Politik motivierten.

In Großbritannien stieg das politische Interesse im Jahr 2016, als die Bevölkerung über den Brexit abstimmte, auf ein ähnliches Rekordhoch von 63% an.

In Deutschland ist eine Ernüchterung nach der Wende zu beobachten: 1990, im Jahr nach dem Mauerfall, interessierten sich 65% der Bevölkerung für Politik. Dieses höhere Interesse sank aber relativ rasch auf 41% in den späteren 1990er-Jahren ab. Ein neues Rekordhoch von 76% erreichte das politische Interesse dann wieder im Jahr 2017, als Angela Merkel zum letzten Mal bei der Bundestagswahl antrat und nach sehr umfangreichen und langen Sondierungsgesprächen, die entsprechend medial begleitet wurden, eine neue Regierung bildete.

Grafik: B. Veit

Zu den Ländern, in denen das politische Interesse in den vergangenen 30 Jahren fast durchgängig unter 50% lag, gehören beispielsweise Italien, Griechenland, Spanien oder Portugal im Süden Europas, Polen, Slowenien oder die Ukraine im Osten Europas oder etwa auch Frankreich oder Belgien im Westen. In Belgien, Italien und Portugal ist in dieser Zeit jedoch ein Aufwärtstrend zu beobachten. In Belgien verdoppelte sich das Interesse zwischen 1983 und 2016 von 24% auf 45%, in Portugal stieg das politische Interesse zwischen 1988 und 2020 sogar von 8% auf 31% und in Italien stieg es zwischen 1983 und 2013 von 20% auf 45%, bevor es zuletzt wieder etwas zurückging (auf 35% im Jahr 2018). In Griechenland, Polen und Slowenien hingegen sank das politische Interesse während der vergangenen 30 Jahre. Hier scheint ein kontinuierlicher Rückgang des politischen Interesses seit dem Ende der Sowjetunion bzw. seit dem Zerfall von Jugoslawien 1991 beobachtbar zu sein. In Polen sank das Interesse von 49% auf 42%, in Slowenien von 57% auf 39% und in Griechenland von 54% auf 30%.

Aber auch ein anderes prominentes Ereignis der jüngeren Geschichte lässt sich in den Trendlinien ablesen: In der Ukraine halbierte sich das politische Interesse nach der Orangenen Revolution von 2005 von 64% auf 32% (im Jahr 2013).

Dass den Menschen das politische Geschehen (einigermaßen) wichtig ist, ist eine Grundvoraussetzung für deren demokratische Partizipation. Es wird daher für die Zukunft unserer Demokratien von Bedeutung sein, wie sich die weiteren Trendverläufe im politischen Interesse entwickeln werden.

Johanna Willmann

 

Johanna Willmann, PhD ist Universitätsassistentin (post-doc) am Institut für Staatswissenschaft sowie am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien und arbeitet im Forschungsverbund Interdisziplinäre Werteforschung mit.

Kontakt: johanna.willmann@univie.ac.at 

 

Anmerkungen:

1 EVS (2021). EVS Trend File 1981-2017. GESIS Datenarchiv, Köln. ZA7503 Datenfile Version 2.0.0, doi.org/10.4232/1.13736.

2 Fragenformulierung nach der Wertigkeit unterschiedlicher Lebensbereiche: "Wie wichtig sind die folgenden Bereiche in Ihrem Leben? Arbeit, Familie, Freunde und Bekannte, Freizeit, Politik, Religion." Mögliche Antworten: 1) sehr wichtig, 2) ziemlich wichtig, 3) nicht wichtig, 4) überhaupt nicht wichtig. Berechnet wurden die Mittelwerte aus den folgenden Ländern: Österreich, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Weißrussland, Kroatien, Tschechien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Island, Italien, Litauen, Montenegro, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Ukraine, Nordmazedonien und Großbritannien.

3 Fragenformulierung nach dem politischen Interesse: "Einmal ganz allgemein gesprochen, wie interessiert sind Sie an Politik?" - Antwortmöglichkeiten: 1) sehr interessiert, 2) etwas interessiert, 3) kaum interessiert, 4) überhaupt nicht interessiert.

4 ESS-Wellen 1 bis 8 (2002-2016): European Social Survey Cumulative File, ESS 1-9 (2020). Data file edition 1.0. NSD- Norwegian Centre for Research Data, Norway - Data Archive and distributor of ESS data for ESS ERIC. doi.org/10.21338/NSD-ESS-CUMULATIVE.

5 EB 1983 bis 1984: Schmitt, H., Scholz, E., Leim, I., Moschner, M. (2008). The Mannheim Eurobarometer Trend File 1970-2002 (ed. 2.00). GESIS Datenarchiv, Köln. ZA3521 Datenfile Version 2.0.1, doi.org/10.4232/1.10074; EB 1998: Europäische Kommission (2012). Eurobarometer 49 (Apr-May 1998). GESIS Datenarchiv, Köln. ZA3052 Datenfile Version 1.1.0, doi.org/10.4232/1.10930.