Werte - Zoom, Nummer 12

Divergierende Werte - divergierende Demokratieauffassungen?

21.12.2021

In Europa ist die Unterstützung der Demokratie durch die Bürgerinnen und Bürger weit verbreitet. Allerdings verstehen nicht alle das Gleiche darunter. Informierte Demokraten können Merkmale einer Demokratie gut von denen einer Autokratie unterscheiden. Dieses aufgeklärte Verständnis kommt dann zustande, wenn Selbstentfaltung, Toleranz und Verantwortungsbewusstsein die Grundwerte der Bürgerinnen und Bürger dominieren. Informierte Demokraten halten die Demokratie an sich für äußerst legitim, sind aber kritisch gegenüber den Parlamenten und Regierungen ihrer Länder, deren Verhalten von ihren Vorstellungen abweicht.

 

Divergierende Werte - divergierende Demokratieauffassungen?

Im Überblick über die europäischen Staaten genießt die Demokratie als ideales und gewünschtes politisches System breite Unterstützung durch die Bürgerinnen und Bürger. Allerdings gehen die Meinungen mitunter weit auseinander, wenn man nach der Umsetzung demokratischer Prinzipien in den jeweiligen Staaten fragt. Besonders in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und in den südöstlichen Balkanstaaten sind die Bürgerinnen und Bürger erheblich unzufrieden mit der aktuellen Demokratie in ihren Ländern und bescheinigen ihr eine geringe Qualität. Aber auch in den westeuropäischen Ländern sind größere Anteile unzufriedener und misstrauischer Bürgerinnen und Bürger zu finden. Demokratische Verfahren und Institutionen scheinen hier jedoch stärker verankert und können deshalb feindseligen Angriffen etwa von rechtspopulistischen oder rechtsextremen Parteien besser widerstehen. Dennoch lässt sich ein erhebliches Unzufriedenheitspotenzial nicht leugnen, vor allem in Bezug auf die Parteien und Politiker. Beiden wird nicht allzu viel zugetraut. Der Mangel an Alternativen zur Demokratie, aber auch der starke Wunsch, in einer Demokratie zu leben, hält das demokratische politische System oft am Leben. Doch was verstehen die Bürgerinnen und Bürger eigentlich unter Demokratie?

Um diese Frage zu beantworten, haben wir Indikatoren zum Demokratieverständnis der Bürgerinnen und Bürger - das, was sie für wesentliche Merkmale der Demokratie halten - untersucht. Zu den Demokratiemerkmalen gehören die Fragen nach freien und fairen Wahlen, Bürgerrechten ("Freiheit" und "Kontrolle") und nach der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau, die allgemein als Grundwerte einer Demokratie angesehen werden. Wie verbinden sich diese mit autokratischen Demokratieverständnissen? Diese werden anhand der Befürwortung einer Militärherrschaft, sollte sich die Regierung als inkompetent erweisen, der Herrschaft religiöser Autoritäten und des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit bestimmt. Die sechs Fragestellungen können zu zwei Einstellungsdimensionen zusammengefasst werden, die demokratische bzw. autokratische Vorstellungen von der besten Regierung widerspiegeln. Aus den Dimensionen wird ein Index "Demokratie minus Autokratie" berechnet. Das Ergebnis ist ein autokratisches Verständnis von Demokratie gegenüber einem aufgeklärten Verständnis von (liberaler) Demokratie.

Als informierte Demokraten1 bezeichnen wir solche Befragten, die allen tatsächlichen Merkmalen einer Demokratie in hohem Maße zustimmen und gleichzeitig die Merkmale autokratischer Regime als Merkmale einer Demokratie in hohem Maße ablehnen. Sie erkennen nicht nur die eigentlichen Merkmale einer Demokratie, wenn sie ihnen präsentiert werden, sondern auch, welche Merkmale politischer Regime nicht zur Demokratie gehören. In nur sieben europäischen Ländern finden sich mehr als 50% informierte Demokraten: Albanien, Österreich, Deutschland, Dänemark, Norwegen, Schweden und die Schweiz.

Grafik: B. Veit

Die Gegenüberstellung von informierten Demokraten und Befürwortern eines starken Führers zeigt, dass die Einstellungen Hand in Hand gehen. In fast allen Ländern, in denen es nur wenige informierte Demokraten gibt, ist die Unterstützung für einen starken Führer entsprechend hoch. In einigen Ländern wie Spanien, Portugal, Frankreich, Großbritannien, Ungarn, Italien, Slowenien, der Slowakei und Russland verlieren sich die Bürgerinnen und Bürger im Nirgendwo zwischen den politischen Systemen der Autokratie, des Führerstaates und der liberalen Demokratie.

Aber führt ein fundiertes Wissen über die Demokratie dazu, dass man die Demokratie als legitimer ansieht? Und was sind die Gründe für die Entwicklung einer positiven Einstellung zur Demokratie und die Entwicklung eines informierten Verständnisses der Demokratie?

 

Grundwerte, Frustration, Legitimität und politisches Vertrauen

Politische Haltungen stehen nicht für sich allein. Sie werden durch die sogenannten Sozialisationsinstanzen geprägt: Familie, Schule, Freunde, Arbeitsplatz und das weitere soziale Umfeld sowie die Medien. Neben den politischen Werten umfasst die Wertestruktur eines Menschen auch soziale, familiäre und religiöse Werte. Zusammen bilden sie ein Wertegeflecht, in das die Vorstellungen von guter politischer Führung, in unserem Fall einer Demokratie, integriert sind. Welche Wertesysteme führen zu welchen Vorstellungen von Demokratie, und welche Menschen sind eher mit der Demokratie zufrieden und haben politisches Vertrauen? Die in der EVS 2017 ermittelten Grundwerte leiten wir aus den Erziehungszielen ab, die in erster Linie die Wertespektren der Selbstentfaltung und des Traditionalismus repräsentieren.

Schon die frühen Forscher zur politischen Sozialisation2 hatten mit ihrer Annahme recht, dass die Vermittlung politischer Werte in der Jugend von großer Bedeutung für das spätere Verhältnis zur Demokratie ist. Dabei ist das Demokratieverständnis der entscheidende Vermittler für die Akzeptanz der Demokratie. So erweisen sich die erlernten Werte der Toleranz und des Respekts als ein wesentlicher Erklärungsfaktor für ein aufgeklärtes Demokratieverständnis. Auch das Erziehungsziel des Verantwortungsbewusstseins und das Vorhandensein von postmaterialistischen Werten tragen dazu bei. Ein hohes Maß an Religiosität, rassistische Vorurteile und traditionalistische Erziehungswerte wirken sich dagegen negativ auf ein aufgeklärtes Demokratieverständnis aus. Gleiches gilt für eine eher rechte Position im politisch-ideologischen Spektrum und einen hohen Konsum von sozialen Medien.

Warum ist es wichtig zu wissen, wie ein bestimmtes Verständnis von Demokratie zustande kommt? Warum ist das Verständnis von Demokratie an sich wichtig? Bedeutet Demokratie zu kennen auch, die Demokratie zu lieben? Diejenigen, die über ein fundiertes Wissen über die Demokratie verfügen und sie als frei, gleichberechtigt und wahlorientiert definieren, nehmen die Demokratie auch als legitimer wahr. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie, die sie sich vorstellen, als legitim empfinden. Dementsprechend kritisch stehen sie den politischen Institutionen gegenüber: Sie schenken Parlament und Regierung umso weniger Vertrauen, je besser sie über die tatsächlichen Merkmale einer liberalen Demokratie informiert sind. Dieser Einfluss des Demokratieverständnisses auf die Wahrnehmung von Legitimität ist bedeutender als der jeder anderen Orientierung gegenüber einem politischen Objekt.

Weicht die Demokratie im eigenen Land von dieser Vorstellung ab, ist man entsprechend unzufrieden. Die Wahrnehmung der Demokratie hat jedoch weniger Einfluss auf die Zufriedenheit mit der Demokratie als das Vertrauen in Parlament und Regierung. Vertrauen wiederum ergibt sich aus positiven politischen Erfahrungen und einem allgemeinen Vertrauen in politische Institutionen und Behörden. Vertrauen sorgt auch für ein gewisses Maß an Zufriedenheit mit dem aktuellen politischen System. Das Demokratieverständnis wirkt sich also wesentlich auf die Wahrnehmung der Legitimität aus, wenngleich auch andere politische Objekte, das aktuelle politische System und seine Institutionen, davon beeinflusst werden.

 

Fazit

Unsere Analysen zeigen, dass es unterschiedliche Verteilungen des Verständnisses bzw. der Informiertheit in Bezug auf die Demokratie gibt. Diese beruhen vor allem auf Bildungsprozessen und allgemeinen Werten. Auch die Religiosität spielt eine Rolle, allerdings in anderer Weise, als man es aus liberaler Sicht wünschen würde. So fördert eine hohe Religiosität in Verbindung mit einer traditionellen Werteorientierung autoritäre politische Werte, die für Autokratien günstig und für Demokratien eher ungünstig sind. Diese Effekte haben auch einen vermittelten Einfluss auf den Wunsch nach Demokratie - sie hemmen diesen Wunsch.

Susanne Pickel, Gert Pickel

 

Susanne Pickel ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Sie ist Konsortialleiterin des BMBF-Verbundprojektes "Radikaler Islam - Radikaler Antiislam" (RIRA) und Leiterin der Zweigstelle Duisburg der Südosteuropagesellschaft.

Kontakt: susanne.pickel@uni-due.de

Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig; Co-Sprecher des Standortes Leipzig des Forschungsinstitutes Gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus und Demokratieforschung, Forschungsbereichleiter des Leibniz-WissenschaftsCampus "Eastern Europe - Global Area" sowie Mitglied des Jean-Monnet-Spitzenforschungszentrums "Die Europäische Union und ihre ländliche Peripherie in Ostmitteleuropa".

Kontakt: pickel@rz.uni-leipzig.de

 

Anmerkungen:

1 Cho, Y. (2013). How well are global citizenries informed about democracy? Ascertaining the breadth and distribution of their democratic enlightenment and its sources. Politcal Studies, 63, 240-258.

2 Easton, D., & Dennis, J. (1969). Children in the Political System. Origins of Political Legitimacy. New York: McGraw-Hill. Adorno, T., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D., & Sanford, N. (1950). The Authoritarian Personality. New York: Harper & Brothers.