Werte - Zoom, Nummer 2

Sozialer Zusammenhalt, Teil I: Interpersonales Vertrauen

13.08.2020

Während der Corona-Pandemie gab es immer wieder die Aufforderung, dass die Gesellschaft zusammenhalten müsse und dass dies ein entscheidender Faktor für die Bewältigung der Krise sei. Innerhalb Europas gestaltet sich das Ausmaß des sozialen Zusammenhalts allerdings recht unterschiedlich, wie die Ergebnisse der jüngsten Welle der Europäischen Wertestudie 2017/18 zeigen.

Die erste Jahreshälfte 2020 war von der Ausbreitung des Coronavirus und dem Kampf gegen ebendiese bestimmt. Dabei fielen sowohl das Ausmaß der Betroffenheit durch die Infektion mit dem Virus als auch die staatlich gesetzten Maßnahmen europaweit ziemlich unterschiedlich aus.

Auffällig war darüber hinaus der häufige Rekurs auf den sozialen Zusammenhalt. So gab es diverse Kampagnen, sowohl von Wirtschaftsunternehmen1 als auch von behördlicher Seite2, die appellierten zusammenzustehen – beispielhaft sei hier nur auf die Verwendung der Team-Metapher3 verwiesen. Was aus dem Kontext des Sports bekannt ist, gilt in ähnlicher Weise auch für Gesellschaften als Ganze: Wenn alle an einem Strang ziehen, gelingt vieles, was sonst nicht möglich wäre, und es geht letztlich allen besser.

 

Zusammenhalt als komplexes Gebilde

Wissenschaftlich wird das Thema des gesellschaftlichen Zusammenhalts als soziale Kohäsion bezeichnet und im Hinblick auf verschiedene Aspekte untersucht. So zeigt sich beispielsweise ein positiver Zusammenhang zwischen sozial kohäsiven Gesellschaften auf der einen und dem subjektiven Wohlergehen bzw. der Lebensqualität der Mitglieder dieser Gesellschaften auf der anderen Seite.4 Insofern kann also ein hohes Maß an sozialer Kohäsion eine wichtige Ressource sein, um Krisen gut bewältigen zu können. Allerdings weisen nicht alle europäischen Staaten den gleichen Stand bezüglich der sozialen Kohäsion auf – im Gegenteil: Sie unterscheiden sich teilweise recht deutlich, wie auch die Daten der Europäischen Wertestudie (EVS) nahelegen, die 2017/18 erhoben wurden.

Soziale Kohäsion ist in den vergangenen Jahren angesichts der ablaufenden Transformationsprozesse (z.B. Globalisierung, Individualisierung, Digitalisierung und jeweils damit einhergehende ökonomische, ökologische und politische Veränderungen) ein wichtiges politisches und gesellschaftliches Thema geworden. Es lassen sich dabei wissenschaftliche und politische Zugänge unterscheiden. Im wissenschaftlichen Kontext wird sie als ein vielschichtiges Konstrukt mit mehreren unterschiedlichen Dimensionen aufgefasst. Der empirisch gestützte Ansatz von Schiefer, van der Noll, Delhey und Boehnke differenziert soziale Kohäsion in die drei Hauptdimensionen soziale Beziehungen, Verbundenheit und Fokus auf das gemeinsame Gut, die jeweils noch einmal aus mehreren Subfacetten bestehen.5

In dieser und der folgenden Ausgabe des Werte – Zooms wird exemplarisch für jede der drei Hauptdimensionen je eine Facette aus den Daten der Europäischen Wertestudie ausgewählt und es werden die entsprechenden Ergebnisse im internationalen Vergleich vorgestellt: Die aktuelle Ausgabe fokussiert den Aspekt der sozialen Beziehungen; im nächsten Teil wird es um die übrigen beiden Teilbereiche sozialer Kohäsion, Verbundenheit und Fokus auf das gemeinsame Gut, gehen. Dies wird anhand der Ergebnisse zum (räumlichen) Zugehörigkeitsgefühl und der Art und des Umfangs der Solidarität geschehen.

Interpersonales Vertrauen vor allem im Norden hoch

Maßgeblich für soziale Beziehungen ist u.a. das interpersonale Vertrauen, das europaweit sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Im Allgemeinen wird darunter die Erwartung verstanden, dass andere Menschen verantwortlich handeln, aufrichtig und wohlwollend sind. Als solches ist es zumindest in einem gewissen Ausmaß eine wichtige Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Gemeinwesen.6 In Befragungen wird häufig die Frage: „Würden Sie ganz allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, oder kann man da nicht vorsichtig genug sein?“ herangezogen, um interpersonales Vertrauen zu erheben. In der jüngsten Welle der Europäischen Wertestudie wurden die Befragten gebeten, sich für eine der beiden Optionen zu entscheiden. Grafik 1 veranschaulicht die Ergebnisse in den untersuchten Ländern.

Absoluter Spitzenreiter in Sachen interpersonales Vertrauen ist Dänemark, wo 74% der Befragten äußerten, man könne „den meisten Menschen vertrauen“. Ein ähnlich hohes Vertrauen bekundeten auch Befragte aus anderen nordischen Ländern, so z.B. aus Norwegen (73%), Finnland (70%), Schweden (64%), aber auch Island (63%). In Österreich befand immerhin eine knappe Mehrheit von 51%, dass man anderen Menschen eher vertrauen könne. Damit liegt Österreich hinter den Niederlanden und der Schweiz, jedoch vor Deutschland im oberen Mittelfeld bezüglich des interpersonalen Vertrauens. Es folgen dahinter die Staaten des Baltikums, Großbritannien sowie südeuropäische und mittelosteuropäische Länder. Ein auffällig niedriges Vertrauen äußerten Personen aus südosteuropäischen Ländern wie Bulgarien (18%), Serbien (17%), Kroatien (14%) oder Rumänien (13%). Das geringste Ausmaß des Vertrauens gibt es den EVS-Daten zufolge in Bosnien (10%), Georgien (9%) und Albanien (3%), d.h. hier waren mindestens 90% der Meinung, dass man „nicht vorsichtig genug“ sein könne.

Grafik: B. Veit

Vertrauensradius: Zieh den Kreis nicht zu klein

Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille. In der Europäischen Wertestudie wurde nämlich zusätzlich auch abgefragt, wie hoch das Vertrauen in bestimmte Gruppen ist, angefangen von der eigenen Familie über Menschen in der Nachbarschaft bis hin zu Menschen, die einer anderen Religionsgemeinschaft angehören oder eine andere Staatsbürgerschaft besitzen. Hierbei konnte auf einer vierstufigen Skala das Ausmaß des Vertrauens (völlig, eher, kaum, gar nicht) angegeben werden. Die Analysen legen dabei nahe, dass es eine Art Vertrauensradius7 gibt, der in den einzelnen Ländern unterschiedlich weit reicht. Grafik 2 zeigt eine Auswahl der entsprechenden Ergebnisse.8

Das Vertrauen in das eigene familiäre Umfeld ist wenig überraschend nahezu überall sehr hoch – Albanien, Dänemark, Ungarn und Aserbaidschan weisen hier die höchsten, Litauen, Polen und Frankreich die niedrigsten Werte auf – und auch im übrigen Nahbereich (Nachbarn, persönliche Bekannte) werden großteils nur geringe Unterschiede zwischen den Staaten sichtbar. Vor allem beim Vertrauen gegenüber Menschen, denen man zum ersten Mal begegnet, sowie Personen, die einer anderen Religionsgemeinschaft angehören oder eine andere Staatsbürgerschaft besitzen, existieren allerdings gravierende Differenzen. Während nämlich Befragte aus nordeuropäischen Ländern sowie den Niederlanden eine deutliche Tendenz aufweisen, auch diesen Personen(gruppen) eher mit Vertrauen zu begegnen, zeigen sich die Befragten in vielen Staaten Ost- und Südosteuropas wesentlich skeptischer, insbesondere in Rumänien, Armenien, Aserbaidschan und Albanien. Die Reserviertheit gegenüber Menschen, denen man erstmals begegnet, ist über alle Länder hinweg am höchsten. Die Differenz zwischen dem Vertrauen gegenüber Personen anderer Religionszugehörigkeit und Personen anderer Staatsangehörigkeit ist mit wenigen Ausnahmen in den meisten Staaten vernachlässigbar gering. Dies deutet darauf hin, dass beides in ähnlicher Weise als Identitätsmarker für potenzielle Abgrenzungsbestrebungen (wir vs. andere) fungieren kann. Österreich nimmt auch hier jeweils eine Position im Mittelfeld ein: Einzig gegenüber Menschen, denen man das erste Mal begegnet, überwiegt die Skepsis.

Grafik: B. Veit

Vertrauen als Ressource für soziale Kohäsion

Besonders auffällig sind hingegen die schwedischen Ergebnisse, die zeigen, dass dort nur marginale Unterschiede im Vertrauen bezüglich Nachbarn und Personen mit anderer Religionszugehörigkeit oder Staatsangehörigkeit bestehen und dass der Vertrauensradius im Grunde sehr weitreichend ist, was mit Blick auf die soziale Kohäsion als wichtige Ressource gelten kann. Neben anderen Gründen mag dies auch dazu beigetragen haben, dass der Weg, den Schweden in der Corona-Krise eingeschlagen hat und der im Wesentlichen auf vertrauens- und verantwortungsvollem Handeln der einzelnen Gesellschaftsglieder beruht, möglich und nur von relativ moderaten Widerständen begleitet war.

Inwiefern freilich andere Aspekte das Ausmaß des Vertrauens (mit)prägen, wie beispielsweise kulturelle Dimensionen9, aber auch Faktoren wie die wirtschaftliche Stärke der einzelnen Länder, das Ausmaß der Korruption, soziale Ungleichheiten oder das Ausmaß der ethnisch-kulturellen Diversität, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden und übersteigt zumindest teilweise auch das, was ausschließlich auf Basis der Ergebnisse der Europäischen Wertestudie gesagt werden kann.10

Patrick Rohs

 

Mag. Patrick Rohs, BSc ist seit 2018 Universitätsassistent (prae-doc) am Institut für Praktische Theologie. Er hat Katholische Fachtheologie und Psychologie in Wien und Trier studiert und koordiniert die Arbeitsgemeinschaft Interdisziplinäre Werteforschung. In seiner Dissertation setzt er sich mit dem Thema „Wertebildung und Soziale Kohäsion – Chance und Herausforderung für Theologie und Kirche“ auseinander.

Kontakt: patrick.rohs@univie.ac.at

 

Anmerkungen:

1 Vgl. exemplarisch ein Plakat der Supermarktkette Billa.

2 Vgl. z.B. das Sujet der Stadt Wien: https://www.wien.gv.at/zusammen/src/files/metawien.jpg (abgerufen 13.08.2020).

3 Vgl. https://www.moment.at/story/krisenkommunikation-la-kurz (abgerufen 13.08.2020).

4 Vgl. Eurofound, Quality of life – Social Cohesion and well-being in Europe, Publications Office of the European Union, Luxembourg 2018, 29-32.

5 Vgl. D. Schiefer, J. van der Noll, J. Delhey, K. Boehnke, Kohäsionsradar: Zusammenhalt messen – Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland – ein erster Überblick, hg. von der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2012.

6 Vgl. Eurofound, Quality of life – Social Cohesion and well-being in Europe, Publications Office of the European Union, Luxembourg 2018, 29-32.

7 Vgl. J. Aichholzer, Diversität und Solidarität: Der Umgang mit sozialer Vielfalt und sozialer Zusammenhalt in Österreich. In: ders., Christian Friesl, Sanja Hajdinjak, Sylvia Kritzinger (Hg.), Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018, Wien 2019, 174-205, 192ff.

8 Die vollständigen (bis jetzt vorliegenden) Länderdaten zum Vertrauensradius können hier eingesehen werden.

9 Vgl. beispielsweise die Kulturdimensionen nach G. Hofstede: G. Hofstede, Culture's Consequences. Comparing Values, Behaviors, Institutions and Organizations Across Nations, Thousand Oaks 2001.

10 Vgl. für weitere Überlegungen zu wissenschaftlichen Zusammenhängen von interpersonalem Vertrauen mit anderen Konstrukten D. Stolle, Trusting strangers – the concept of generalized trust in perspective. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 31 (2002), 397-412.