Werte - Zoom, Nummer 11

Demokratie, Religion, Vorurteile - Zuschreibungen als Problem der Demokratie

22.11.2021

Statistische Analysen zeigen jeweils signifikante Beziehungen zwischen der Unterstützung der Demokratie und Vorurteilen, wie auch zwischen Ausdrucksformen des Religiösen und Vorurteilen. Insbesondere die Etablierung breiterer Formen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erweisen sich dabei europaweit für viele religiöse Menschen als Problem. Sie bilden eine Brücke zwischen Religion und antidemokratischen Haltungen. Allein prodemokratische Effekte von religiösem Sozialkapital und Engagement in den Religionsgemeinschaften wirken dieser Verbindung entgegen.

 

Religion, Vorurteile, Demokratie - Die Wichtigkeit von Brückenkonstruktionen

Die Frage, inwieweit Religion und Demokratie zusammenpassen, wird in Wissenschaft und Öffentlichkeit immer wieder und auf unterschiedliche Weise gestellt. Zum einen kann man sich die Frage stellen, ob religiöse Menschen aufgrund ihres Glaubens vor Vorurteilen und antidemokratischen Haltungen geschützt sind. Hierzu gibt es unterschiedliche Positionen. Nimmt ein Teil der Diskutant:innen an, dass Religiosität und Kirchenmitgliedschaft ein Hemmfaktor der Offenheit gegenüber antidemokratischen Vorstellungen ist, so verweist ein anderer Teil auf eine geringe Verträglichkeit von Religion und demokratischer Politik. Zentrale Brückenkonstruktion zwischen Religion und antidemokratischen Haltungen können Vorurteile und Ressentiments sein. Letztere öffnen den Weg in die Radikalisierung, aber auch in die Gegnerschaft zur Demokratie und gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Bereits Theodor Adorno konzeptualisierte die Schädlichkeit von Vorurteilen für Demokratien in seiner Rekonstruktion der autoritären Persönlichkeit.1 Interessanterweise verweist er auch auf eine gewisse Ambivalenz des Religiösen gegenüber Vorurteilen - und damit Demokratie. Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kam in seinen Studien der Sozialpsychologe Gordon Allport.2 Auch er identifizierte diese Ambivalenz der Wirkungen von Religiosität auf Vorurteile. Er sah sie als Ergebnis der Existenz unterschiedlicher religiöser Gruppen oder unterschiedlicher Verständnisse von Religiosität.3 So nahm er an, dass universal und pluralistisch denkende Mitglieder von Religionsgemeinschaften und Gläubige gegenüber der Ausbildung von Vorurteilen geschützter sind als andere Gruppen in der Gesellschaft. Umgekehrt fand er aber Vorurteile bei dogmatisch und exklusivistisch denkenden Religiösen deutlich häufiger.4

 

Vorurteile und Rassismus als Problemfälle der Demokratie

An diese Überlegungen und aktuelle Fragen der Demokratieforschung wie Religionssoziologie anschließend, kann man mit den aktuellen Daten der European Values Study 2017 einen Blick auf die Beziehungen zwischen Religiosität und demokratischen bzw. antidemokratischen Haltungen werfen. Dabei gehen wir in einem Zweischritt vor. Zuerst untersuchen wir über alle untersuchten europäischen Länder hinweg die Beziehungen zwischen Haltungen zur Demokratie. Dabei greifen wir auf in der politischen Kulturforschung übliche Indikatoren zur Messung demokratischer politischer Unterstützung zurück (Legitimität der Demokratie, Zufriedenheit mit der Demokratie in der Gegenwart und im Untersuchungsland sowie Vertrauen in das Parlament).5 Dann analysieren wir die Korrelationen (Produkt-Moment-Korrelation r nach Pearson) zwischen Ausdrucksformen des Religiösen und ausgewählten Vorurteilen.

Grafik: B. Veit

Die Ergebnisse sind eindeutig: Bestehen Vorurteile, seien sie gegenüber Muslim:innen, Menschen anderer Hautfarbe oder sexueller oder geschlechtlicher Vielfalt, dann wirken diese sich ungünstig auf alle Haltungen zur Demokratie und damit eine demokratische politische Kultur aus. Das Ergebnis ist übrigens fast durchweg gleich, wenn man einzelne Länder oder Ländergruppen analysiert. Spiegelverkehrt hierzu unterstützen Menschen mit Vorurteilen signifikant häufiger antidemokratische Alternativen zur Demokratie, wie einen starken Führer, der möglichst unbeeinträchtigt von Parteien und Kontrolle agiert, oder gar eine Militärregierung. Dies bedeutet ebenfalls: Menschen mit wenigen oder keinen Vorurteilen unterstützen die Demokratie und legen durch ihre Anerkennung von Pluralität die Grundlage für eine funktionierende Civic Culture.6

Die Bedeutung von Religion für die Vorurteile ist den Daten der EVS 2017 nach ebenfalls nicht zu leugnen. Sowohl europäische Bürger:innen, die an Gott glauben, religiös praktizieren (wie z.B. bei Christ:innen den Gottesdienst besuchen) oder aber sich selbst als religiös einstufen, neigen zu höheren Vorurteilen gegenüber Muslim:innen sowie sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, wie sie hier durch die Haltung zur Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare erhoben wird. Die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Paare fällt besonders hoch aus und zeigt Schwierigkeiten von nicht wenigen hochreligiösen Menschen mit der neuen sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt. Diese Vorurteilsstrukturen werden interessanterweise durch eine signifikant stärkere Ablehnung von klassischem Rassismus, der über die Ablehnung von Nachbarn mit anderer Hautfarbe gemessen wird, kontrastiert. Dies bedeutet: Religiöse Menschen sind durchaus für Vorurteile anfällig, allerdings nicht für alle, sondern spezifische. Vor allem die Entwicklung der Geschlechterbeziehungen stößt bei vielen Gläubigen auf Distanz bis Ablehnung. Gleiches gilt für diejenigen, welche sich in ihren religiösen Gemeinschaften engagieren und einbringen. Den Ideen von Robert Putnam folgend, scheint sich hier eine (auch für die Demokratie) positive Wirkung religiösen Sozialkapitals abzuzeichnen, die Hinweise auf Gruppen in den Religionsgemeinschaften gibt, welche prodemokratisch sind.7 Entsprechend besitzt Religiosität eine beachtliche (statistische) Wirkung auf Vorurteile, welche sich oft für die Demokratie schädlich auswirkt und nur bei engagierten Gläubigen prodemokratisch.

 

Fazit

Die Daten der EVS 2017 zeigen die Relevanz von Religiosität für eine demokratische politische Kultur. Vorurteile, insbesondere gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, stellen eine Verbindung oder Brücke zwischen bestimmten Gruppen von Gläubigen und antidemokratischen Haltungen dar. Gleichwohl ist das Ergebnis komplizierter. So stehen andere, teils durchaus auch gläubige, Kirchenmitglieder mit einem hohen sozialen und religiösen Engagement solchen Haltungen teils erkennbar entgegen. Mithin wird deutlich, dass die Beobachtung einer ambivalenten Wirkung von Kirchenmitgliedschaft und Religiosität auf Vorurteile und Demokratie heute immer mehr ins Wanken kommt und sich die unterschiedlichen Gruppen in Religionsgemeinschaften nur noch bedingt austarieren, sondern eher mehr oder weniger offen mit ihren Haltungen gegenüberstehen. Dass dies für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eine Belastung werden kann, ist genauso unzweifelhaft, wie die neue Relevanz von Religion für Politik.

Gert Pickel, Susanne Pickel

 

Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, Co-Sprecher des Standortes Leipzig des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus und Demokratieforschung, Forschungsbereichsleiter des Leibniz-WissenschaftsCampus "Eastern Europe - Global Area" sowie Mitglied des Jean-Monnet-Spitzenforschungszentrums "Die Europäische Union und ihre ländliche Peripherie in Ostmitteleuropa".

Kontakt: pickel@rz.uni-leipzig.de

Susanne Pickel ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Sie ist Konsortialleiterin des BMBF-Verbundprojektes "Radikaler Islam - Radikaler Antiislam" (RIRA) und Leiterin der Zweigstelle Duisburg der Südosteuropagesellschaft.

Kontakt: susanne.pickel@uni-due.de

 

Anmerkungen:

1 Adorno, T., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D., & Sandford, N. (1950). The Authoritarian Personality. New York, NY: Harper & Brothers.

2 Allport, G. W. (1979). The nature of prejudice. New York, NY: Perseus.

3 Allport, G. W., & Ross, M. J. (1967). Personal religious orientation and prejudice. Journal of Personality and Social Psychology 5(4), 432-443.

4 Pickel, G., Liedhegener, A., Jaeckel, Y., Odermatt, A., & Yendell, A. (2020). Religiöse Identitäten und Vorurteile in Deutschland und der Schweiz - Konzeptionelle Überlegungen und empirische Befunde. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 4(1), 149-196.

5 Pickel, S., & Pickel, G. (2006). Vergleichende Politische Kultur- und Demokratieforschung. Grundbegriffe, Theorien und Methoden. Wiesbaden: VS-Verlag.

6 Vgl. Almond, G. A., & Verba, S. (1963). The civic culture: Political attitudes and democracy in five nations. Princeton, NJ: Princeton University Press.

7 Putnam, R. D. (2000). Bowling alone: The collapse and revival of American community. New York, NY: Simon & Schuster.