Werte - Zoom, Nummer 4

Religion im – religionspolitisch bedingten – Umbruch?

19.10.2020

Die Europäische Wertestudie (EVS) ermöglicht seit drei Jahrzehnten einen Überblick über die makrosoziologischen Entwicklungen im Bereich von Religion. Mag der Religionsbegriff dieses Langzeitprojektes auch unterbestimmt sein1, lassen sich anhand der Indikatoren "Glaube an Gott", "Selbstverständnis als religiöser Mensch" sowie "Bedeutung von Religion im Leben" doch die großen Langzeitdynamiken der religiösen Landschaft in Europa skizzieren. Einen ersten Einblick in die religionsspezifischen Daten der EVS 2017/18 bietet der folgende Beitrag.

 

Stabile Religiosität am Ende – religionspolitisch bedingter Umbruch?

2010 hatten der Soziologe Christoph Schachinger und ich noch eine länderspezifisch zwar durchaus verschiedene, aber weitgehend stabile Religiosität in Europa konstatiert.2 Diese erwies sich dabei auch eng an ein konfessionelles Selbstverständnis gebunden.

Demgegenüber zeigen die Ergebnisse von 2017/18 eine sich weiter ausdifferenzierende religiöse Landschaft. Die teils widersprüchlichen Entwicklungen werfen die Frage auf, ob und inwiefern sich hier ein Umbruch oder gar Bruch andeutet, den die aktuellen religionssoziologischen Theorien noch nicht angemessen einholen. So setzen sich 2017 sowohl die Dynamik der sogenannten Säkularisierung (d.h. hier Rückgang des Kirchgangs, der Gebetspraxis, die Entkoppelung von subjektiver Religiosität von institutioneller Anbindung und dem Glauben an Gott) wie auch der Pluralisierung weiter fort, nehmen aber je nach Land "pfadabhängige", d.h. von historischen und kulturellen Faktoren abhängige Formen an.

Doch zeigen sich 2017 auch einige Entwicklungen, die die Frage aufwerfen, ob und inwieweit sich mittlerweile neben den anhaltenden Krisen insbesondere der katholischen Kirche nicht auch die Politisierung von Religion ebenso wie eine "religionisierte" Politik in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen in einigen Ländern widerspiegeln und zu religionspolitisch bedingten Umbrüchen und Brüchen in der religiösen Dynamik führen. Nicht zuletzt Diskurse, die die muslimischen Minoritäten sowie "den" Islam zum Thema der Religionsthematisierung in der Politik machen, dürften sich auch auf die religiöse Dynamik auswirken. Im Licht dieser Annahme folgt nun eine erste Auswertung von drei exemplarischen religiösen Parametern.

 

Ein Blick in die verschiedenen Länder Europas

a) Selbsteinschätzung als religiöse Person

Grafik: B. Veit

Das Selbstverständnis als "religiöse Person" zeigt in den untersuchten Ländern der EVS eine große Spannweite. Sie reicht von Schweden mit 27% der Befragten der jüngsten Welle, die sich als "religiöse Person" bezeichnen, bis Polen und Rumänien, wo diesem Selbstverständnis 83% zustimmen. Teilt man die Länder3 in jene, in denen sich 2017/18 a) weniger als 50%, b) zwischen 50% und 75% und c) 75% bis 100% der Befragten als "religiöse Person" bezeichnen, so gehören zu den Ländern bzw. Regionen mit niedrigerem religiösem Selbstverständnis Schweden, Ostdeutschland, Tschechien, Frankreich, die Niederlande, die Schweiz und Finnland – Länder bzw. Regionen, in denen die Säkularisierung bereits im 19. Jahrhundert zu Erosionsprozessen geführt hat (Ostdeutschland, Tschechien), in historisch dominant protestantischen Ländern sowie im laizistischen Frankreich und in der religiös freiheits- und selbstbewussten Schweiz. Mittleres religiöses Selbstverständnis findet sich in Ungarn, Westdeutschland, Dänemark, Österreich, Slowenien, in Italien und der Slowakei. Kroatien, Rumänien und Polen gehören nach wie vor zu jenen europäischen Ländern, in denen sich eine deutliche Mehrheit der Befragten als "religiöse Person" versteht.

Diese europaweite "Rangordnung" der Intensität subjektiven religiösen Selbstverständnisses ist im Großen und Ganzen über den Zeitvergleich hinweg seit 1990 gleichgeblieben. Gleichwohl lässt sich im longitudinalen Vergleich beobachten, dass das religiöse Selbstverständnis in Frankreich, den Niederlanden, Dänemark, Österreich und Italien gesunken ist: seit 1990 bzw. 2008 teilweise durchaus signifikant wie z.B. in den Niederlanden (seit 1990 um 17%), in Italien (seit 2008 um 9%) oder in Österreich (seit 1990 um 11%). Es gibt demgegenüber aber auch Länder, in denen das Selbstverständnis als "religiöse Person" zwar moderat, aber doch gestiegen ist: in Tschechien (seit 2008 um 2%) sowie in Rumänien (seit 2008 um 4%). Am deutlichsten ist der Anstieg im Vergleich zur vorletzten Befragungswelle 2008 in Deutschland: in Ostdeutschland um 10%, in Westdeutschland um 5%. Allerdings wird dieser unerwartete Anstieg derzeit noch auf die Validität der Daten geprüft. Griechenland hat bis dato noch keine aktuellen Daten präsentiert.

 

b) Glaube an Gott

Grafik: B. Veit

Auch die Zustimmungen zum Glauben an Gott sind in den erforschten Ländern der EVS europaweit heterogen und breit gestreut. So geben 2017 in Ostdeutschland 31% der Befragten an, an Gott zu glauben, während dies in Rumänien 95% bejahen.

Das "Ranking" der Länder lässt sich auch hier übernehmen. So gehören zu den Ländern, in denen bei der jüngsten Erhebungswelle 2017 unter 50% der Befragten angeben, an Gott zu glauben, Ostdeutschland, Tschechien, Schweden und die Niederlande. In Frankreich, Dänemark, Finnland, Slowenien, Westdeutschland, der Schweiz, Ungarn, Österreich und der Slowakei geben zwischen 50% und 75% an, an Gott zu glauben. Zu den hochreligiösen Ländern in Bezug auf den Glauben an Gott gehören Italien, Kroatien, Polen und Rumänien.

Vergleicht man diese Länderaufteilung im Vergleich mit der Rangordnung der EVS 2008, lassen sich einige bemerkenswerte Tendenzen beobachten. So gehören die Niederlande mittlerweile zu den niedrigreligiösen Ländern, der Glaube an Gott ist seit 1990 um 20%, seit 2008 um 14% gesunken. Demgegenüber ist der Glaube an Gott in Frankreich vergleichsweise stabil geblieben; in Tschechien ist er seit 2008 sogar um 2% gestiegen. Ostdeutschland weckt mit einem Anstieg des Glaubens an Gott um 11% Fragen nach der Datenvalidität.

Unterschiedlich ist auch der Trend in den mittelreligiösen Ländern. So findet sich Österreich, das 1999 noch zu den hochreligiösen Ländern in Europa gehörte, mittlerweile in dieser Gruppe wieder. Der Glaube an Gott ist in Österreich seit 1990 um 9%, seit 2008 um 4% gesunken. Ähnlich ist die jüngere Entwicklung auch in der Slowakei. Mit Ausnahme von Frankreich, wo der Glaube an Gott gleich geblieben ist, befindet er sich in allen Ländern in dieser Gruppe seit 2008 auf dem Rückgang: in Dänemark um 9%, in Finnland um 2%, in Slowenien um 4%, in Ungarn um 2%, in Westdeutschland um 4% und in der Schweiz um 3%.

Teilt man die Länder4 in jene, in denen 2017/18 a) weniger als 50%, b) zwischen 50% und 75% der Personen und c) 75% bis 100% den Glauben an Gott bejahten, so gehören zu den Ländern (bzw. Regionen) mit niedrigerem Glauben an Gott Ostdeutschland, Tschechien, Schweden und die Niederlande. Ein mittlerer Glaube an Gott findet sich in Frankreich, Dänemark, Finnland, Slowenien, Westdeutschland, der Schweiz, Ungarn, Österreich und der Slowakei. Italien, Kroatien, Polen und Rumänien haben nach wie vor die höchsten Zustimmungsraten zum Glauben an Gott. Doch auch in diesen Ländern zeigen sich teils deutliche Rückgänge: in Italien um 8%, in Kroatien um 5% und in Polen um 5%.

 

c) Wichtigkeit von Religion im Leben

Grafik: B. Veit

Die EVS fragt in jeder ihrer Untersuchungswellen auch nach der Wichtigkeit des Lebensbereiches Religion. Reiht man die Länder in dieser Hinsicht, gibt es in Europa nur fünf (mit Griechenland evtl. sechs) Länder, in denen Religion in der jüngsten Erhebungswelle 2017 für mehr als 50% der Befragten (ziemlich) wichtig ist: die Slowakei, Kroatien, Italien, Polen und Rumänien. Alle anderen Länder zeigen Zustimmungsraten zur (ziemlichen) Wichtigkeit zwischen 19% (Dänemark) und 45% (Ungarn). Österreich liegt mit 43% der Befragten, für die Religion (ziemlich) wichtig ist, im Mittelfeld.

Gleichwohl gibt es innerhalb der einzelnen Länder durchaus heterogene Tendenzen. Während die Wichtigkeit von Religion seit 2008 in den Niederlanden (-10%), in Dänemark (-11%), in Slowenien (-2%), in der Schweiz (-10%), in der Slowakei (-2%), in Österreich (-4%), in Italien (-9%), in Kroatien (-7%) und in Rumänien (-4%) deutlich sinkt, steigt sie in Schweden (+7%), Ungarn (+3%), Finnland (+2%) und Polen (+4%). In Frankreich und Westdeutschland bleiben die Zahlen weitgehend stabil.

 

Interpretation?

Europa ist insgesamt zwar ein nach wie vor christlich und insbesondere konfessionell geprägter Raum, Prozesse der Säkularisierung und Pluralisierung von Religion schreiten aber kontinuierlich voran. Dabei betrifft die Säkularisierung von Religion mittlerweile nicht nur jene protestantisch dominierten bzw. laizistischen oder ehemals kommunistischen Länder und Regionen, die schon in den vergangenen Jahrzehnten als weitgehend säkularisiert zu bezeichnen waren, sondern auch traditionell hochreligiöse Länder wie Kroatien, Polen und auch Österreich, alles Länder mit katholischer Mehrheit. Die Krise der katholischen Kirche spiegelt sich darin wider.

Auch die seit Jahrzehnten stattfindende Erosion von im Alltag gelebter Religion sowie die Entkoppelung von subjektivem religiösen Selbstverständnis, konfessioneller Zugehörigkeit, Glaube an Gott und Wichtigkeit von Religion im Leben schreitet in vielen Ländern voran. Die bisher vorliegende Forschung zu den Ursachen dieser Entwicklung legt nahe, dass der Glaube an Gott ohne konfessionelle oder gar institutionelle Bindung zwar nicht unmittelbar verschwindet, aber ohne entsprechende Verankerung im Leben und in Institutionen schrittweise erodiert und in Konsequenz verdunstet.

Ebenso kann sich ein religiöses Selbstverständnis mit unterschiedlichsten Bedeutungszuschreibungen verbinden. So wird beispielsweise in Österreich ein religiöses Selbstverständnis mit der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche identifiziert, während der Begriff in Frankreich breitere Bedeutung hat. Dieser Bedeutungswandel reicht von einem Verständnis von Religiosität als "Spiritualität" über die Identifikation eines religiösen Selbstverständnisses mit einem kulturellen Identity-Marker ohne jeglichen Bezug zu Glaube oder einer Religionsgemeinschaft bis zur Entkoppelung des Glaubens an Gott.

Auch religionspolitische Diskurse in der Öffentlichkeit, in den Medien und von Seiten politischer oder wissenschaftlicher Akteure wirken sich auf das Verständnis von "Religion" und "Religiosität" aus und erklären möglicherweise die eher unerwarteten Ergebnisse eines durchaus deutlichen Zuwachses an Wichtigkeit von Religion in einigen Ländern. Hier ist wohl weniger mit einem Anstieg des persönlichen Glaubens oder einem spirituellen Revival zu rechnen als mit einer bisher noch zu wenig erforschten Auswirkung religionspolitischer Diskurse, nicht zuletzt zu den Thematiken rund um Migration und den sogenannten politischen Islam. Der Versuch, die vorliegenden Daten entlang der Grenze zwischen westeuropäischen und ehemals kommunistischen Ländern zu interpretieren – seit jeher aufgrund der unterschiedlichen Rollen fragwürdig5, die die Kirchen in dieser Region spielten – scheint daher mittlerweile obsolet. Sinnvoller erscheint hier eine religionshistorische und religionspolitische Tiefenanalyse; präziser: von religionshistorisch verbundenen Regionen, da mit Blick auf die europäische Religionsgeschichte eine Erforschung von Religion in nationalen "Containern" an ihre Grenzen stößt.

 

Theologische Perspektiven

Aus einer theologischen Sicht steht im Zentrum der Frage nach Religiosität die Frage nach dem Glauben an Gott. Dieser befindet sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – im kontinuierlichen Sinkflug. Der praktisch-theologische Befund, dass ohne entsprechende, im Alltag und an Institutionen gebundene Plausibilitätsstrukturen, die dem Glauben konkrete Gestalt geben, mittelfristig auch der Glaube diffundiert, wird hier belegt. Die Erosion traditionell-kirchlich formatierter Religiosität und die Krisen der Kirche(n) zeigen ihre Auswirkungen. Diese erfassen mittlerweile auch traditionell katholische und orthodoxe Länder wie Italien, Kroatien, Polen und (ein wenig auch) Rumänien.

Freilich lässt die EVS nicht genau erkennen, an welchen Gott die Befragten glauben, d.h. ob es sich dabei um den biblisch und kirchlich bezeugten Gott oder einen Gott handelt, der mit anderen als christlichen Begriffen beschrieben wird. Die Entkoppelung des Glaubens an Gott vom Phänomen Religion sowie der semantische Wandel im Religionsverständnis, der Rückgang traditionell-kirchlicher Praxisformen, die veränderte Qualität religiöser Erfahrungen und Erwartungen an Religion sowie die Politisierung von Religion legen jedenfalls pastoraltheologisch nahe, der Frage nach und dem Verständnis der Menschen von Gott verstärkt Augenmerk zu schenken und dies unterschieden von religiösen Selbstkonzepten und konfessionellen bzw. institutionellen Zugehörigkeiten zu erforschen.

Regina Polak

 

Assoz.-Prof. MMag. Dr. Regina Polak, MAS ist assoziierte Professorin und Vorständin am Institut für Praktische Theologie. Sie ist Mitglied des Forschungsverbunds Interdisziplinäre Werteforschung sowie des Forschungszentrums "Religion and Transformation in Contemporary Society". Sie ist Herausgeberin des Sammelbands "Values – Politics – Religion: The European Values Study" (geplantes Erscheinungsdatum: Ende 2021).

Kontakt: regina.polak@univie.ac.at

 

Anmerkungen:

1 Aktuelle Debatten dazu: Vgl. Detlef Pollack/Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt am Main 2015, 48-72; Ulrich Willems et al. (Hg.): Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013.

2 Vgl. Regina Polak/Christoph Schachinger: Stabil in Veränderung: Konfessionsnahe Religiosität in Europa, in: Regina Polak (Hg.): Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990-2010: Österreich im Vergleich, Wien 2010, 191-219.

3 Diese Einteilung hatten wir 2010 vorgenommen, da die Zugehörigkeit zu den einzelnen Gruppen aus einer konfessions- und religionshistorischen Perspektive insofern Sinn macht, als sich in der Höhe und Intensität von Religion, Religiosität und Glaube an Gott auch die jeweilige Geschichte, die Geschichte des Zusammenspiels von Kirche und Staat sowie die historischen heterogenen Säkularisierungsdynamiken und konfessionellen Machtverhältnisse widerspiegeln.

4 Diese Einteilung hatten wir 2010 vorgenommen, da die Zugehörigkeit zu den einzelnen Gruppen aus einer konfessions- und religionshistorischen Perspektive insofern Sinn macht, als sich in der Höhe und Intensität von Religion, Religiosität und Glaube an Gott auch die jeweilige Geschichte, die Geschichte des Zusammenspiels von Kirche und Staat sowie die historischen heterogenen Säkularisierungsdynamiken und konfessionellen Machtverhältnisse widerspiegeln.

5 Vgl. Regina Polak/Gergely Rosta: Religion and Values in Central- and Eastern Europe, in: András Maté-Tóth/Gergely Rosta (Hg.): Focus on Religion in Central- and Eastern Europe. A regional view, Berlin 2016, 33-74.

 

Diese Textfassung stellt eine korrigierte Überarbeitung der ursprünglichen Fassung dar.